Mittwochmorgen, 8.27Uhr: Die Anspannung im Zürcher Volkshaus ist mit Händen greifbar. Nervöses Stühlerücken, hastiges Tippen auf den Tastaturen – sonst absolute Stille. Alle sind bereit. Doch Bezirksrichter Sebastian Aeppli (63), der mit seinen zwei Richterkollegen auf der Bühne thront, verlangt den Anwesenden viel Geduld ab.
Pierin Vincenz (65) sitzt ganz am Rande des Saals. Weit nach vorn gebeugt scrollt er auf seinem Handy. Er wirkt irgendwie abwesend, die Richter würdigt er keines Blickes. Was ihm wohl durch den Kopf geht?
Dann endlich, um exakt 8.30 Uhr, ergreift Aeppli das Wort: «Guten Morgen, ich möchte Sie begrüssen zur Urteilseröffnung.» Es tönt, als würde der Richter hier eine Schulklasse empfangen. Was folgt, ist ein rasanter Vortrag in Juristendeutsch. Anklageziffern und Tatbestände werden so schnell heruntergerattert, dass kaum einer mitkommt. Zwar ist bald ein erstes «schuldig» zu hören, kurz darauf aber auch ein «unschuldig». Erst als das Strafmass verkündet wird, wird klar: Es ist kein guter Tag für den ehemaligen Raiffeisen-Chef.
«Hohe kriminelle Energie»
Vincenz wird vom Bezirksgericht Zürich zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Sein langjähriger Geschäftspartner Beat Stocker (62), ehemals CEO der Kreditkartenfirma Aduno, kassiert gar vier Jahre Knast – ebenfalls ohne Bewährung. Richter Aeppli spricht von einer «hohen kriminellen Energie» und einem Missbrauch der Vertrauensposition.
So unmissverständlich das Urteil, so heftig die Reaktion der Verlierer. «Das Urteil ist falsch, und es gibt eine Berufung», kündigt Vincenz-Verteidiger Lorenz Erni (72) noch vor Ort an.
Wie die Chancen stehen, das Urteil in der nächsten Instanz zu kippen oder wenigstens abzumildern, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Wirtschaftsrechtler Peter V. Kunz (56) ist überzeugt, eine neue Entscheidung werde für die Herren Vincenz und Stocker günstiger ausfallen: «Ich wäre nicht überrascht, wenn das Obergericht bei der Freiheitsstrafe auf weniger als 24 Monate runterginge. Dann müsste Vincenz nicht ins Gefängnis», so Kunz gegenüber Blick TV.
Ausführliches Urteil soll im Sommer vorliegen
Monika Roth jedoch, Compliance-Expertin und Strafrichterin im Kanton Basel-Land, schätzt die Lage anders ein: «Es gibt auch Vermögensdelinquenten, die mit vergleichbaren Tatbeständen und Deliktsummen mit fünf oder sechs Jahren Freiheitsstrafe bestraft worden sind. Von daher ist das Urteil für mich keine Überraschung.» Roth betont aber, dass eine genaue Einschätzung aus der Ferne gar nicht möglich sei: «Wir als Beobachter kennen nicht die Akten, Dokumente und Einvernahmeprotokolle. Deshalb können wir uns – im Gegensatz zum Bezirksgericht – auch kein vollständiges Bild machen.»
Das ausführliche Urteil, das im Verlaufe des Sommers vorliegen soll, wird über die detaillierten Erwägungen der Richter Aufschluss geben. Sobald es den Parteien zugestellt ist, haben sie 20 Tage Zeit, eine schriftliche Berufungserklärung einzureichen. Darin müssen sie angeben, ob sie das Urteil vollumfänglich oder nur in Teilen anfechten. Roth: «Um eine Neubeurteilung zu erwirken, muss die Verteidigung bei jeder Annahme und Beweiswürdigung einzeln aufzeigen, wieso die Schlussfolgerung des Bezirksgerichts nicht gerechtfertigt ist.»
Mit einem Urteil des Obergerichts ist laut Roth in ein bis eineinhalb Jahren zu rechnen. Sollte das Urteil danach ans Bundesgericht weitergezogen werden, dürfte es noch einmal so lange dauern. «Der Fall dürfte deshalb wohl erst in zweieinhalb, drei Jahren endgültig abgeschlossen sein», so die Strafrichterin.
Zins von fünf Prozent
Solange kein rechtskräftiges Urteil vorliegt, gilt für Vincenz und Stocker die Unschuldsvermutung – und sie bleiben auf freiem Fuss. Aus finanzieller Sicht ist ein ewig langes Verfahren für die beiden aber wenig vorteilhaft. Die potenziellen Schadenersatzansprüche von Raiffeisen und Aduno werden nämlich von Tag zu Tag grösser. Denn das Gesetz verlangt, dass dem Geschädigten zuzüglich zum gerichtlich festgelegten Schadenersatz ein Zins von fünf Prozent zu bezahlen ist.
Dieser Zinssatz ist seit Jahren der gleiche – trotz Negativzinsen wurde er nie nach unten angepasst. Und da es im Fall Vincenz um zweistellige Millionenbeträge geht, sind auch die möglichen Zinszahlungen entsprechend hoch.
In drei Bereichen hat das Bezirksgericht einen Schaden bereits beziffert: Für die Spesenexzesse sollen Vincenz und Stocker rund 390'000 Franken an Raiffeisen und Aduno zurückerstatten. Wegen der Vorab-Beteiligung an der Softwarefirma Commtrain wiederum wurden die Beschuldigten zu einer Schadenersatzzahlung von 2,66 Millionen Franken verdonnert. Bei zwei weiteren Übernahmen (GCL und Investnet) ist das Gericht der Meinung, Vincenz und Stocker seien «dem Grundsatz nach schadenersatzpflichtig» – den exakten Umfang müsse aber ein Zivilgericht beziffern. Es könnte sich an den Schadenssummen orientieren, welche die Staatsanwaltschaft errechnet hat: Für GCL wären das 9,12 Millionen Franken, für Investnet 12,61 Millionen.
Vincenz könnte die Beträge kaum je zahlen
Insgesamt kämen so 24,78 Millionen Franken an Schadenersatz zusammen, die zu fünf Prozent verzinst werden müssten. Pro Jahr wären das mehr als 1,2 Millionen Franken, pro Monat rund 100'000 Franken zusätzlich.
Vincenz wäre im Falle einer endgültigen Verurteilung wohl kaum in der Lage, diese Beträge je zahlen zu können. Der gefallene Topbanker beklagt heute schon Schulden in Millionenhöhe, wie im Verlaufe der Verhandlung bekannt wurde.
Das sind keine guten Nachrichten für Stocker und die anderen Beschuldigten, die zu bedingten Geldstrafen verurteilt worden sind. Denn das Gericht verlangt für die genannte Schadenersatzpflicht eine «solidarische Haftung».
Wird diese Rechtsauslegung von den nächsten Instanzen bestätigt, dürfte sich auch ein Zivilgericht daran orientieren – und die ehemaligen Geschäftspartner müssten am Ende wohl auch für Vincenz finanziell geradestehen.