Der Wirtschaftsprozess des Jahres steuert langsam, aber zielsicher auf ein Urteil zu. Vor dem Zürcher Bezirksgericht stehen Pierin Vincenz (65), ehemals CEO der Raiffeisenbank, und einige seiner Businesspartner – in der Anklageschrift stehen schwere Vorwürfe wie gewerbsmässiger Betrug und ungetreue Geschäftsbesorgung.
Mit dem Fall des Bündners, dessen Aufstieg untrennbar mit dem Niedergang des Bankgeheimnisses verbunden bleibt, wird auch ein Stück Schweizer Wirtschaftsgeschichte aufgearbeitet.
Story um Story über den Vorzeigemanager
Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Publizist Lukas Hässig (57). Sein Portal insideparadeplatz.ch wird als Enthüllungsplattform bewundert und als Gerüchteschleuder verpönt, in jedem Fall ist es Pflichtlektüre in der Finanzwelt, das mediale Lagerfeuer der Lackschuhträger.
Am 27. Juli 2016 macht Hässig das Thema als Erster öffentlich. Er deckt eine 1,5-Millionen-Zahlung von Vincenz an dessen Freund und Berater Beat Stocker auf («Investierte Vincenz vorab rund um Raiffeisendeal?»). Danach folgt Story um Story über den früheren Vorzeigemanager und Medienliebling.
Ein Anruf mit verstellter Stimme
2018 überschlagen sich die Ereignisse. Am 27. Februar wird Vincenz verhaftet. Hässig haut Raiffeisen-Artikel im Tagesrhythmus raus. Am 9. März klingelt kurz nach zwei Uhr nachmittags sein Telefon. Eine Person mit verstellter Stimme droht ihm auf Spanisch: «Wenn du mit Schreiben nicht aufhörst, wirst du bald tot sein.»
Wenige Minuten später passiert dasselbe bei seiner Frau. Wieder eine verstellte Stimme, wieder auf Spanisch. «Falls Ihr Ehemann nicht aufhört zu schreiben, ist Ihre Familie in Gefahr.» Hässig meldet den Vorfall bei der Polizei. Die Zürcher Staatsanwaltschaft beginnt Vorermittlungen gegen unbekannt wegen Drohung und versuchter Nötigung.
Morddrohungen über unterdrückte Nummer
Im Fokus der Strafverfolger steht zeitweise S. O.* Mit der Tänzerin hatte Vincenz in früheren Jahren eine Affäre. Weil die Morddrohungen mit unterdrückter Nummer über einen rumänischen Server kamen, werden die Behörden auf die Moldawierin aufmerksam. Sie ordnen am 19.April 2018 eine Hausdurchsuchung bei ihr an – genauer: eine «begleitete Edition», die angenehmere Variante, bei der die Auskunftsperson das Material selbst aushändigen darf.
O. wird gleichentags einvernommen und findet nur lobende Worte für ihren ehemaligen Geliebten, der zu diesem Zeitpunkt seit bald zwei Monaten in U-Haft sitzt. «Er ist so ein lieber Mann», gibt sie zu Protokoll. Ganz generell findet sie: «Ein älterer Mann kann so viel, davon können junge Männer nur träumen.»
Aussergerichtlicher Deal zwischen O. und Vincenz
Die Schwärmerei könnte einen unromantischen Grund haben: Zu jenem Zeitpunkt im April 2018 hat die Dame bereits anderthalb Millionen Franken auf ein Julius-Bär-Konto überwiesen bekommen. Das Geld stammt aus einem aussergerichtlichen Deal zwischen ihr und Vincenz, der auf eine mittlerweile berühmt-berüchtigte Nacht 2014 im Zürcher Hotel Hyatt zurückgeht.
Die überlieferten Fakten des damaligen Vorfalls widersprechen O.s Lobeshymnen auf ihren Don Juan diametral. Und zeigen, wie sich der Raiffeisen-Chef 2014 in Irrungen und Wirrungen verstiegen hatte, die nicht nur für ihn zu einem gefährlichen Klumpenrisiko wurden – in einer Zeit notabene, die noch immer im Zeichen des Steuerstreits stand: Der Parlamentskrimi um den UBS-Staatsvertrag, der 2010 die Herausgabe von Kundendaten der Grossbank an Washington regelte, steckte vielen noch in den Knochen. Die USA hatten gerade erst eine Milliardenbusse gegen die CS verhängt. Kurz zuvor war Konrad Hummlers Privatbank Wegelin zerschlagen worden.
Ein Rippenbruch und blaue Flecken
Umso mehr galt Vincenz als Garant eines soliden Geldgeschäfts. Im Kontrast zu dieser öffentlichen Rolle ging er privat ein Vabanquespiel ein. Und brachte damit nicht nur seine eigene Reputation sowie jene der Bank und der Branche in Gefahr – er machte sich auch erpressbar, wie sich später herausstellte.
Die Waghalsigkeit jedenfalls ist verblüffend, mit der der Chef einer systemrelevanten Schweizer Kreditgeberin ins Halbdunkel tauchte. Vielsagend sind die Befunde nach der Nacht in Zimmer 507 des Hotels Hyatt am 12. Juni 2014: Der Arztbericht diagnostizierte bei O. eine gebrochene Rippe, eine geschwollene Hand und «Hämatome an allen vier Extremitäten». Zudem wurde ihre Aussage protokolliert, wonach es nicht zum ersten Mal zum Drama gekommen sei: «Trotz Versprechungen, dass es nicht mehr vorkommen würde, eskaliert die Situation regelmässig und zunehmend schlimmer.»
Was ist passiert?
Eine SonntagsBlick-Anfrage lässt Vincenz unbeantwortet. «Kein Kommentar», teilt sein Anwalt Lorenz Erni mit.
Die Zeche der fatalen Amour fou ging auf Geschäftskosten, wie die Zürcher Staatsanwaltschaft dokumentiert: Die Reparaturkosten für das beschädigte Hotelzimmer in der Höhe von 3778 Franken und die Anwaltskosten von über 30'000 Franken hatte Vincenz der Raiffeisen-Genossenschaft auferlegt – mit ein Grund dafür, dass er heute vor Gericht steht. Dort hat Verteidiger Erni jüngst angekündigt, dass sein Klient jene Summen zurückzahlen werde.
Nun könnte es sich theoretisch um leere Behauptungen von O. handeln. Ob es tatsächlich «nicht zum ersten Mal» zu Gewalt gekommen war, lässt sich nicht überprüfen. Vincenz ist ein strafrechtlich unbescholtener Bürger, für den die Unschuldsvermutung genauso gilt wie für alle anderen. Und offen ist die Frage, ob auch er Verletzungen davontrug.
Ruf stand auf dem Spiel
Sollte indes die im ärztlichen Dokument vermerkte Aussage von O. zutreffen, erschiene der Deal des Bankers mit ihr noch pikanter. Mit anwaltschaftlicher Hilfe erwirkte er, dass sie von einer Anzeige wegen Körperverletzung absah und im Gegenzug in Tranchen à 35'000 Franken 1,8 Millionen Franken erhalten sollte. Die damals 35-jährige Mutter eines Sohnes liess sich von Valentin Landmanns Kanzlei vertreten.
Dass sein Ruf auf dem Spiel stand, war Vincenz offenbar bewusst. In Bern liess er sich als Transparenz-Turbo feiern, in diesem Fall war Diskretion seine oberste Maxime. Eine Aussage von O. 2018 bringt den Ernst der Situation auf den Punkt: «Vincenz hatte Angst wegen meiner psychischen Verfassung.»
Vincenz sicherte sich mehrfach ab
Also liess er sich, damit die Sache unter dem Deckel bleibt, mehrfach absichern: In einer Vertraulichkeitsvereinbarung wurde festgehalten, dass das Geld nur fliesst, solange keine Dritten und «insbesondere Medien» davon erfahren. Zudem wurde das Geld nicht direkt verschoben, sondern über einen Anwalt als Mittelsmann, was mit einem sogenannten Escrow-Vertrag geregelt wurde.
Tagsüber war Vincenz der Weissgeld-Apostel und die Galionsfigur des anständigen Geldmetiers – die SP-Fraktion im Bundeshaus hatte ihn 2012 in ihrem wegweisenden Vorstoss für einen automatischen Informationsaustausch mit der EU sogar als Kronzeugen aufgeführt.
Nach Feierabend trieb es ihn in die Kalamitäten der Rotlichtwelt. Wie riskant das war, beweist ein halb geglückter Erpressungsversuch.
Der Chauffeur hatte von der Sache Wind bekommen
Von der Liaison mit O. hatte irgendwann auch der Schweizer A. L.* Wind bekommen. Er war ihr Taxifahrer, nach langen Nächten pflegte sie ihn direkt per Handy anzurufen. Im Juni 2015 erhielten sie und Vincenz einen Brief des Chauffeurs, in dem er von seiner Kundin und ihrem prominenten, verheirateten Lover eine sechsstellige Summe forderte. Ansonsten wende er sich an die Presse.
Nach anfänglichem Widerstand von Vincenz – L. sei schliesslich ihr und nicht sein Fahrer – einigte man sich mit dem Übeltäter auf eine Vergleichssumme in fünfstelliger Höhe und erledigte die Sache damit still und heimlich.
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L. starb 2017. Der Fall landete ironischerweise später doch noch in den Medien – auf Insideparadeplatz.
Das gesamte Kapitel O. blieb juristisch folgenlos. Lukas Hässig will sich auf Anfrage von SonntagsBlick ebenso wenig äussern wie Vincenz.
Aduno reicht Strafanzeige ein
Am 20. Dezember 2017 reichte die Kreditkartenfirma Aduno Strafanzeige gegen Pierin Vincenz und Beat Stocker wegen mutmasslicher Wirtschaftsdelikte ein. Später zog die Raiffeisen-Gruppe nach.
Am 26. Oktober 2020 erhob die Zürcher Staatsanwaltschaft III Anklage gegen Vincenz, Stocker und fünf weitere Personen. Die Verhandlungen haben am 25. Januar begonnen. Alle Beschuldigten fordern einen Freispruch.
Das Jahr 2014 war das vorletzte mit Pierin Vincenz an der Spitze von Raiffeisen. Im damaligen Geschäftsbericht steht, dass Verluste «infolge der Unangemessenheit oder des Versagens von internen Verfahren, von Menschen oder infolge von externen Ereignissen» zum operationellen Risiko gehörten.
Allfällige Reputationsrisiken habe man im Griff.
* Namen bekannt