Arbeiten, bis die Steuern bezahlt sind – ein Selbstversuch
51 Tage schuften für Papa Staat

Unser Autor rechnet aus: Jedes Jahr arbeitet er bis zum 20. Februar, nur um seine Steuern zu zahlen. Eine Entdeckungsreise ins metaphysische Gruseln.
Publiziert: 25.02.2024 um 16:21 Uhr
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Aktualisiert: 25.02.2024 um 16:22 Uhr
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Verwaltungsgebäude, Veloständer, Fussgängerstreifen: Autor Daniel Faulhaber ist Mitbesitzer.
Foto: Daniel Faulhaber
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Daniel Faulhaber
Beobachter

1. Januar 2024: Mir ist schlecht. Ist das noch die Silvesternacht – oder schon der Vorgeschmack auf meine 51-Tage-Schicht bei Papa Staat? Ab heute arbeite ich nicht für neue Kleider, Essen oder die Miete. Ab heute arbeite ich anderthalb Monate für – das da? Mein Blick geht kurz die Strasse hoch und wieder runter. Dieser sogenannte öffentliche Raum, alles von Steuergeldern bezahlt. Auch von meinen.

Das ist ein Experiment. Ich starte mit den Scheuklappen des Steuerzahlers in dieses Jahr und frage mich: Wenn nur Leistung und Gegenleistung meinen Blick diktieren – was macht das mit mir? Als Mensch, als Teil dieser Gesellschaft, als Bürger?

Artikel aus dem «Beobachter»

Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.

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Das Experiment liegt in der Verdichtung. Denn natürlich sind wir niemals nur Steuerzahler, also Geberinnen. Sondern gleichzeitig auch Empfängerinnen, also Nutzniesser der öffentlichen Schulen und Stadtparks, der sauberen Strassen und, ja, auch der Landwirtschaft. Dennoch drängt sich dieser Versuch aus zwei Gründen auf.

Erstens werde ich kleiner Bürger bei aktuellen Debatten oft auf mein Portemonnaie reduziert. Ob Teilzeitdebatte, 13. AHV-Rente, Erhöhung des Rentenalters, Viertagewoche, immer steht die Frage über allem: Können wir uns das leisten? Darum wird jetzt knallhart zurückgerechnet: Was, bitte schön, hab ich denn davon?

Der zweite Grund für das Experiment ist ein Gedankenspiel, über das ich beim Ausfüllen meiner Steuererklärung gestolpert bin. Er lautet: «Tax Independence Day», auch TAX-I, «Tax Freedom Day» oder gar «Steuerzahlergedenktag». Dabei handelt es sich um «den ersten Tag des Jahres, an dem […] nicht mehr für die Einkommenssteuer des Bundes, des Kantons und der Gemeinde gearbeitet werden muss», schreibt die Eidgenössische Steuerverwaltung.

Die Rechnung geht so: Ich berechne das Einkommen pro Arbeitstag im Jahr. Dann teile ich meinen Einkommens- und Vermögenssteuerbetrag durch das Einkommen pro Arbeitstag. Macht in meinem Fall als sogenanntem Sink (single income, no kids) mit Wohnsitz in Basel-Stadt: 51 Tage Arbeiten für Papa Staat. Eine Saubüez. Kennen Sie Ihren TAX-I? Man kann sich seinen persönlichen «Steuerfreiheitstag» von der Steuerverwaltung berechnen lassen.

Eine Debattenlage, die nur Geld im Blick hat, und ein neoliberales Freiheitsmodell: Das muss reichen, finde ich. Ab ins Labor.

Auftakt zum Selbstversuch: Die Ansprüche wachsen

3. Januar 2024. Als Shareholder betrete ich heute dieses Investitionsprojekt namens «öffentlicher Raum» auf der Suche nach «meinem» Stück vom Kuchen. Ich fahre üblicherweise mit Zug und Velo zur Arbeit, aber werde täglich von sehr breiten Autos an den Strassenrand gedrängt, oft übersieht mich einer beim Abbiegen. Ich habe Velolichter gekauft, hell wie Scheinwerfer. Bringt nichts, für die Steuermänner in ihren grossen Karren bleibe ich Luft.

Wenn doch die Strasse eine Torte ist, die wir gemeinsam bezahlt haben: Warum wird dann mein Stück so oft von den anderen weggefressen? Merksatz fürs Steuerzahlerprotokoll: Die Ansprüche wachsen. Das ist auch meine Party. Ich will tanzen.

Allein dieser Ausdruck: Tax Independence Day. Da will ich gleich aufstehen und eine Nationalhymne singen. Wer Tax Independence Day sagt, sagt auch: Steuern sind ein Joch, und du, Steuerzahler, bist der schwitzende Ochse vor dem Pflug des Staatsapparats. Es gibt noch mehr solcher Joch-Vokabeln auf dem Ackerbau der Staatsfinanzen. Wir sagen auch: Steuerbelastung. Oder: Steuerschuld.

Steuern sind so. Ein einziges niederschmetterndes Drama.

Preisschild am Zebrastreifen: 2000 Franken

15. Januar. Ich will jetzt wissen, wo ich da draussen konkret investiert bin. Anruf beim Steueramt Basel-Stadt: Wo ist mein Geld, also das, was Papa Staat damit gemacht hat? So genau lasse sich das nicht sagen, heisst es, denn Steuern gingen im allgemeinen Staatshaushalt auf und seien «nicht zweckgebunden». Auf Nachfrage erhalte ich dann doch noch ein Kuchendiagramm aus dem Betriebsaufwand der kantonalen Departemente 2024.

Daraus lasse sich schliessen, dass von einem Steuerfranken zirka 30 Rappen in die Bildung oder ungefähr 9 Rappen in den Bau und den Verkehr fliessen. 13 Rappen pro Steuerfranken gehen ins Gesundheitswesen.

20. Januar. Das Naheliegende kommt buchstäblich aus dem Baudepartement, darum führt mich der Spaziergang zuerst zum nächsten Fussgängerstreifen. Kostenpunkt: 2000 Franken.

Ich gehe in die Hocke, mache erst mal ein Selfie. Mein Zebrastreifen, sehr cool. Passanten schauen mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank.

Früher: Wer hier durchwill, zahlt

Vor der Gründung des Bundesstaats waren Steuern in den meisten Kantonen hauptsächlich Verbrauchsteuern, also Brücken- oder Grenzzölle und so weiter. Mein Zebrastreifen, dein Trottoir, wer da drüberwill, zahlt. Nach 1848 ging die Zollhoheit an den Bund, der noch heute die Mehrheit «seiner» Steuern durch indirekte Abgaben wie zum Beispiel die Mehrwertsteuer eintreibt. Das Gros der direkten Abgaben – Einkommens- und Vermögenssteuern – geht an Kanton und Gemeinde.

Und die machen mit ihrem Steuerfuss, Föderalismus lässt grüssen, was sie wollen. Die kalendarischen Unterschiede der TAX-Is sind folglich grotesk. Im Kanton Zug arbeitet der Modellhaushalt eines Ehepaars mit zwei Kindern 40 Tage für seine Steuern. Im Kanton Neuenburg sind es etwa 85 Tage. Basel-Stadt befindet sich mit 73 Tagen im am stärksten belasteten Drittel der Steuerbelastungs-Rangliste.

Weiterspazieren, immer tiefer in diese Basler Steuerkulisse hinein. Ich sehe keine Zusammenhänge mehr, nur noch Preisschilder, die ich mir vom Finanzdepartement habe zusammentragen lassen. Ein neuer Veloständer mit Platz für drei Velos zum Beispiel kostet 1200 Franken. Ein neuer Baum im öffentlichen Raum: durchschnittlich 1200 Franken. Für die Pflege in den ersten fünf Jahren kommen dann noch einmal 1600 Franken dazu. Der Unterhalt einer öffentlichen WC-Anlage: 16’000 Franken im Jahr.

Folgende Rechnung entspricht zwar nicht der realen Verteilung meines Steuergelds in der Haushaltskasse, ich will sie im Sinn der Versuchsanlage dennoch aufstellen: Angenommen, jeder Franken ginge ans Bau- und Verkehrsdepartement: Dann könnte sich Papa Staat von meinen jährlichen Steuern ganze zwei Zebrastreifen, einen Veloständer und einen Baum leisten.

Und dafür krieche ich morgens um 6.30 Uhr aus dem Bett?

Alle hassen die Steuern, dachte ich. Überraschung: Stimmt gar nicht. Immerhin 38 Prozent aller Schweizer Haushalte mit einem Einkommen zwischen 4000 und 8000 Franken – die sogenannte Mittelschicht – sind mit der Höhe ihrer Steuern zufrieden, zeigt eine Umfrage des Vergleichsportals Comparis. Diese 38 Prozent erachten die Gegenleistung des Staates als gerecht. Über alle Einkommensklassen hinweg liegt die helvetische Steuerzufriedenzeit bei 42 Prozent.

Zum Vergleich: In Deutschland gaben in einer repräsentativen Umfrage 85 Prozent der Befragten an, die Steuerlast für Normalverdiener sei zu hoch.

Warum ist das so? Studien zeigen: Die Bereitwilligkeit, die Steuern zu zahlen, statt sie zu hinterziehen, hängt mit dem politischen System zusammen. «Wenn Steuerzahler mitbestimmen können, für welche öffentlichen Aufgaben die Steuereinnahmen verwendet werden sollen, ist die Steuermoral höher», schreibt der Verhaltensökonom Bruno S. Frey.

«Meine Kids lieben Dinosaurier»

17. Februar. Ob sie sich auf den Dinosaurier freue, frage ich die Frau am Rand der grössten Baustelle im Quartier. Vor fünf Jahren sagte die Basler Stimmbevölkerung Ja zum Neubau des Naturhistorischen Museums und des Staatsarchivs. Kostenpunkt: 214 Millionen Franken. Steuergeld. Sie habe auch für den Neubau gestimmt, sagt die Frau. «Meine Kids lieben Dinosaurier.»

Andererseits könne es sein, dass wegen des Neubaus die Mieten im Quartier steigen. Ein Wohnblock direkt nebenan wird gerade totalsaniert. Das mache ihr Sorgen. «Ich wohne schon lange im St. Johann. So viele Baugerüste an den Häusern wie jetzt, das gab es noch nie.» Auch das gehört zur Kostenwahrheit der politischen Mitbestimmung: In der Abrechnung stehen stets Überraschungen, von denen auf den Abstimmungsplakaten nichts zu lesen war.

Der Selbstversuch – unbefriedigend

20. Februar: Mein Start ins Jahr als Vollzeitsteuerzahler: unbefriedigend. Ich bin kein besserer Bürger, nur weil ich das Preisschild eines Baums kenne. Ich fühle auch nichts beim Gedanken an meine Beteiligung an Fussgängerstreifen. Ich habe mir mehr erhofft. Eine Subjektwerdung gegenüber dem Staat. Mitsprachelust. Stattdessen: das deutliche Gefühl, dass ich und mein Beitrag in diesem System sehr allein und unbedeutend sind.

Einzig auf der Strasse lasse ich mir die Verdrängung nicht länger bieten. Wenn mir noch einer im SUV in die Parade fährt, gibts eine Schimpftirade. Für diesen Streifen Beton hab ich mitbezahlt. Das ist (auch) meine Party. Ich will tanzen.

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