Die Corona-Pandemie hat die Luftfahrt in ihre schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gestürzt. Die Schweizer Airlines fliegen seit 18 Monaten tagtäglich Verluste ein. Ein Ende von Reiserestriktionen ist nicht in Sicht. Unter der Pandemie leiden aber nicht nur die Bilanzen der Fluggesellschaften, sondern vor allem auch die Menschen, die ihnen ein Gesicht geben und die Passagiere mit einem Lächeln an Bord begrüssen.
Das Kabinenpersonal ist das Rückgrat einer jeden Airline. Blick hat in den vergangenen Tagen und Wochen recherchiert und mit mehreren Flugbegleiterinnen und Flugbegleitern von den wichtigsten Schweizer Fluggesellschaften gesprochen.
Die Crew-Mitglieder von Swiss, Helvetic und Chair zeichnen dabei ein düsteres Bild von der Schweizer Luftfahrt. Sie beschreiben eine Angstkultur, berichten von Bespitzelungen, massivem Druck und einer generell miesen Stimmung in der Kabine. Auch die Flugsicherheit soll während der Pandemie gelitten haben.
Offen sprechen will niemand. Zu gross ist die Angst vor Repressalien in der übersichtlichen Schweizer Branche. Blick hat deshalb sämtliche Personen anonymisiert und sie so fotografiert, dass die Protagonisten nicht erkennbar sind.
«Arbeitsbedingungen vielerorts nicht mehr menschlich»
Sandrine Nikolic-Fuss (52) kennt die Sorgen der Flugbegleiter wie keine andere Person im Land. Sie vertritt als Präsidentin von Kapers, der Gewerkschaft des Kabinenpersonals, die Interessen der Crew-Mitglieder von Swiss, Helvetic und Chair Airlines. Die Pandemie habe die bereits ohnehin schwierige Situation für die Angestellten deutlich verschlimmert, sagt sie. «Dieser Beruf war einmal sehr prestigeträchtig, die Arbeit wurde entsprechend entlöhnt. In den letzten Jahren hat sich das geändert. Inzwischen sind die Arbeitsbedingungen vielerorts nicht mehr menschlich.»
Als Chef-Gewerkschafterin hat Nikolic-Fuss über die Massenentlassungen mit der Swiss verhandelt. 550 Kündigungen wurden im Juni ausgesprochen, 336 davon betrafen das Kabinenpersonal. «Ich kann die Sparmassnahmen in einer solchen Krise verstehen», sagt sie. «Aber dass die Swiss die Verträge mit ihren Mitarbeitenden weniger würdigt als die Vereinbarung mit Helvetic, ist für die Angestellten ein Affront.»
Swiss prüft Zusammenarbeit mit Helvetic
Hintergrund ist ein Vertrag zwischen der Swiss und Helvetic. Die Schweizer Regionalfluglinie ist ein Subunternehmen der Lufthansa-Tochter, führt als solche auch während Corona regelmässig vier Flüge im Auftrag der Swiss durch. In Deutschland und Österreich hat Lufthansa die Verträge mit den Subunternehmen im Zuge der Krise aufgekündigt. In der Schweiz blieb man der Helvetic jedoch treu. «Der Vertrag hätte zumindest revidiert werden müssen», kritisiert die Gewerkschafterin. «Die eigenen Angestellten müssten zuerst geschützt werden. Jetzt haben viele deshalb ihren Job verloren.»
Die Swiss sieht das nicht so. Mit Helvetic pflege man eine jahrelange und «sehr gute» Zusammenarbeit. Es sei aber vorgesehen, die Anzahl der durch Helvetic operierten Flugzeuge im Vergleich zu der eigenen Kurz- und Mittelstreckenflotte überproportional zu reduzieren. «Die künftige Ausgestaltung der Zusammenarbeit wird unter anderem von der weiteren Entwicklung der Pandemie abhängen», teilt die Swiss mit.
Helvetic und Chair: Alles noch schlimmer?
Im Gegensatz zur Swiss, mit der Kapers laut Aussagen von Nikolic-Fuss grundsätzlich eine gute Partnerschaft pflegt, sorgt sie sich viel mehr um zwei kleinere Unternehmen. «Helvetic und Chair haben einschneidendere Sparmassnahmen getroffen», sagt sie. Die Angestellten sind dort nicht von einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) geschützt. «Die Folge sind noch tiefere Löhne und Arbeitsbedingungen, die für einen Schweizer Arbeitgeber eine Schande sind», sagt Nikolic-Fuss.
Helvetic hält dagegen: «Als Schweizer Fluggesellschaft sind wir uns unserer sozialen Verantwortung gegenüber unseren Mitarbeitenden bewusst. Deshalb haben wir immer ein offenes Ohr und sind bereit, individuelle Lösungen für unsere Belegschaft zu finden, wie zum Beispiel Lohnvorauszahlungen.»
«Ein Schandfleck für die Schweizer Luftfahrt»
Die Airline hat nach Ansicht der Chef-Gewerkschafterin zu viel Macht gegenüber ihren Mitarbeitenden. Der Basislohn beträgt nur etwas mehr als 3100 Franken pro Monat. Und das Kabinenpersonal muss bei der Airline von Patron Martin Ebner (75) auf Abruf innert 24 Stunden bereit sein. «Die Helvetic kann so voll über das Leben seiner Angestellten verfügen. Das ist mit einem Privatleben nicht vereinbar», findet Nikolic-Fuss.
Helvetic sieht das nicht so. «Wir bieten viele verschiedene, innovative Teilzeitmodelle in der Kabine an.» So würden sich Beruf und Familie gut unter einen Hut bringen lassen. Ausserdem führe man keine Langstreckenflüge durch, was ein Vorteil für die Crew sei. «Weil es nur sehr wenige Auslandsaufenthalte mit Übernachtungen gibt, ist das Personal am Abend meistens wieder zu Hause in den eigenen vier Wänden», streicht die Fluggesellschaft hervor.
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Nicht besser ist die Lage nach Ansicht von Nikolic-Fuss für das Personal bei der kleinsten Schweizer Airline, die 2019 nach dem Grounding von Germania gegründet wurde. «Chair Airlines ist ein Schandfleck für die Schweizer Luftfahrt», sagt sie. Unter Androhung einer Änderungskündigung haben die Mitarbeitenden im Herbst neue Verträge zu deutlich schlechteren Konditionen unterschrieben. Flight-Attendants erhalten seit Januar weniger als 2500 Franken Grundgehalt. Und das bei einem 100-Prozent-Pensum .
Chair feuert Mitarbeiter und ersetzt sie
Blick hat erfahren, dass Chair in den letzten Tagen und Wochen während der Kurzarbeit eine Handvoll Kündigungen ausgesprochen hat. Allesamt an langjährige Mitarbeitende, die während der Pandemie im Einsatz gestanden sind. Pikant: Die Stellen werden teilweise durch Arbeitskräfte aus dem Ausland ersetzt. Chair-CEO Shpend Ibrahimi (49) bestätigt drei Entlassungen im Juli. Dafür seien im Juni neun neue Mitarbeitende eingestellt worden. «Die Pandemie hat die Airlinebranche extrem hart getroffen. Entlassungen liessen sich leider nicht vermeiden. Wir bedauern das selbst am allermeisten», sagt er.
Nikolic-Fuss meint angesichts der tiefen Löhne und der kritisierten Arbeitsbedingungen: «Chair zu fliegen, ist, wie Kinderarbeit in Afrika zu unterstützen.» Die Entlassungen würden die unmoralische Firmenkultur deutlich aufzeigen.
Vorwurf: Chair-Flugzeuge ein Sicherheitsrisiko
Die Gewerkschafterin sorgt sich aber nicht nur um das Chair-Personal, sondern auch um die Fluggäste. «Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Besatzung aus Angst vor Repressalien keine Sicherheitsberichte mehr verfasst», sagt sie. Dieser ist in der Luftfahrt eine Basis für sicheres Fliegen. Nikolic-Fuss: «Diese Kultur der Unterdrückung ist eine sicherheitsrelevante Gefahr.»
Chair-CEO Ibrahimi weist diesen Vorwurf zurück. «Diese sicherheitsrelevanten Reports müssen gemacht werden, das ist Vorschrift. Darum werden sie selbstverständlich verfasst.»