In Stéphane Lambiels «Skating School of Switzerland» im malerischen Champéry, hängen überall Schwarz-Weiss-Bilder aus den 50er Jahren: neben dem Eisfeld verschneite Bauern-Scheunen und Hütten, dahinter die Walliser Berge.
Nicht gerade das Umfeld, das Alexia Paganini aus ihrer Heimat New York gewöhnt ist. «Ja, der Wechsel ist schon gross. Aber genau das Richtige, um auf mein Training zu fokussieren und durch nichts abgelenkt zu sein», sagt die 18-Jährige, die seit Ende Mai ihre Trainingsbasis aus dem US-Bundesstaat New Jersey hierhin gewechselt hat.
Sie spricht geschliffenes Hochdeutsch, das sie durch ihre früheren Jahre in einer deutschen Schule kann. Der Vater der schweiz-amerikanischen Doppelbürgerin ist Bündner, ihre holländische Mutter lebte viele Jahre in St. Moritz. Alexia hat Verwandte in der Schweiz und weiss die hiesigen Vorzüge zu schätzen. «Die Landschaft ist wunderschön hier – und langweilig ist es mir keineswegs.»
In der Freizeit gehe sie in den Bergen wandern, mache Ausflüge nach Lausanne oder Montreux. Sie vermisse zwar ihre Freundinnen, ihre Brüder und die Eltern, die zuhause in New York nach wie vor mehrheitlich in Quarantäne sitzen. «Aber ich habe auch hier in meinen Trainingspartnern schon nette Freunde gefunden. Mit ein paar von ihnen teile ich eine Wohnung. Sie sorgen gut für mich», sagt sie. «Wir kochen zusammen und ich lerne viel über die Schweizer Küche. Zuhause wurde ich immer von meiner Mama bekocht – nun lerne ich, mich selbst zu versorgen – auch das ist neu.»
Zeit zum Nachdenken in Corona-Pause
Das professionelle Trainingsumfeld, das ihr der zweifache Schweizer Weltmeister Lambiel in seiner vor sechs Jahren gegründeten Schule bietet, ist ebenfalls etwas ganz Neues. «In den USA hatte ich das nicht», so Alexia, die ihre High School (12. Klasse) im April online abschloss.
Nachdem sie im Februar EM-Vierte wurde und ihr Lauf kurz vor der WM durch die Corona-Pandemie jäh gestoppt wurde, hatte sie viel Zeit zum Nachdenken über ihre Wünsche und Ziele als Eisprinzessin. «Ich kam zum Schluss, dass ich – bevor ich in zwei Jahren mit dem College weitermache – alles tun möchte, um besser zu werden. Am liebsten in einem Team, das gleiche Interessen und Prioritäten hat. Das habe ich nun gefunden.»
Als Stéphane Lambiel die Eiskunstwelt mit unwiderstehlichen Pirouetten und seinem starken Ausdruck verzauberte, war Alexia Paganini gerade erst dem Kleinkind-Alter entwachsen. Kannte sie ihn überhaupt? «Meine Eltern waren ein grosser Fan von ihm», erklärt sie, «sie zeigten mir seine WM-Läufe und den Moment, als er Olympia-Zweiter wurde. Für die Choreografie war er seitdem mein Vorbild.»
Nun arbeitet sie mit ihrem Idol – und es sei schlicht toll. «Weil er selbst Eiskunstläufer ist, versteht er genau, wie wir uns fühlen. Er weiss, wie er das Beste aus uns herausholt. Bei Stéphane ist das Training viel positiver als sonst», schwärmt sie.
Lambiel sieht Riesen-Potenzial
Die Begeisterung ist gegenseitig. «Alexia meldete sich bei mir und kam anfangs erst einmal auf unbestimmte Zeit», erzählt Lambiel. «Wir hatten sofort viel Spass, studierten eine neue Choreographie für ihre Kür ein – und sie wollte bleiben.» Alexia sei eine grossartige Persönlichkeit und harte Arbeiterin – unkompliziert, charakterstark und selbstbewusst.
Damit passe sie perfekt in die Gruppe seiner Top-Athleten, zu denen auch der japanische Olympia-Silbergewinner 2018, Shōma Uno, oder Lettland-Star Deniss Vasiljevs gehören. «Sie ist ein Leader, bringt eine schöne Energie aufs Eis – das mag ich besonders an ihr. Sie weiss genau, was sie braucht, um gut zu arbeiten, oder welches Kleid ihr in Farbe und Form gut steht – das ist aussergewöhnlich in ihrem jungen Alter.»
Lambiel sieht in Alexia noch mehr Talent und Potenzial, als sie selbst. «Meine Aufgabe ist es, sie über ihre Grenzen hinauswachsen zu lassen», sagt der 35-jährige, selbst noch aktive Trainer, der motiviert durch seine Schüler noch immer alle Sprünge auf dem Eis steht. Besonders an den Vierfachen werde er mit Alexia feilen und die künstlerische Seite seines neuen Schützlings verbessern. «Damit der Funken von Alexias schöner Ausstrahlung noch mehr aufs Publikum überspringt», so Lambiel.
2021 an der EM in Zagreb und an der WM in Stockholm soll Paganini ihr Feuerwerk dann zünden. Mit Lambiels ausgearbeiteter Kür und einem Kurzprogramm seiner Vertrauens-Choreografin Salome Brunner – beide sehr unterschiedlich in Musik und Stil.
Eine Top-Platzierung bestimmt der Chefcoach aber noch nicht als Ziel. Alexia soll erst Konstanz liefern, damit sie von den Preisrichtern als Läuferin wahrgenommen wird, die zur weltbesten Elite-Gruppe gehört. Lambiel: «Wenn sie das schafft, können wir bald mit Top-Klassierungen an Europa- oder Weltmeisterschaften rechnen.»