Sie trägt die Startnummer 38, steht im Final und gewinnt nach wenigen Sekunden souverän: Wendy Holdener feiert am 14. August 2023 einen ganz besonderen Sieg. «Stimmt», sagt die 30-Jährige stolz. Worum es sich handelt? Das Slalom-Ass triumphiert im Sommer erstmals beim traditionellen Chilbi-Nageln in Oberiberg SZ, ganz in der Nähe ihrer Heimat Unteriberg. «Zuerst musste ich mich in der Ausscheidung unter die Top 8 kämpfen. Das hat geklappt. Und dann hat mich definitiv der Wettkampfmodus gepackt», blickt Holdener zurück.
Tatsächlich hämmert sie ihre letzten zwei Nägel so entschlossen und präzise in den Baumstamm, als gäbe es kein Morgen. «Der Siegespreis war entweder ein Schweinskarree und ein Holzsäuli oder ein Gutschein inklusive einer Flasche Wein.» Ihr Mutter Daniela, eine gelernte Köchin, spricht sich für das Stück Fleisch aus. «Logisch», wie Holdener schmunzelnd erzählt – sie entscheidet sich dennoch für den Gutschein und die Flasche.
Gewichte stemmen? Darum gehts nicht
Was das mit dem Skizirkus zu tun hat? Auf den ersten Blick nicht viel. Und doch steht Holdeners Sieg im Wettnageln exemplarisch für jenen Ehrgeiz, den sie auch im Skirennfahren an den Tag legt. «Wenn ich gesund bleibe und fit, würde ich gerne bis zur Heim-WM 2027 in Crans-Montana weiterfahren», sagt sie. Dann wäre Holdener 34 Jahre alt.
Gleichzeitig zeichnet die sechsfache WM- und fünffache Olympia-Medaillengewinnerin etwas anderes aus: ihre Explosivität. Auch diese Qualität zeigt sie nicht nur an der heimischen Chilbi, sondern auch regelmässig auf der Skipiste.
«Zusammen mit der Schwedin Anna Swenn-Larsson ist Wendy für mich die explosivste Fahrerin im Skizirkus», sagt Michelle Gisin (29). Ihre Teamkollegin ist geschmeichelt. «Ich bin ziemlich schnellkräftig, das ist tatsächlich eine grosse Stärke. Sie ist auch wichtig, im Slalom sogar essenziell.» Einerseits hat Holdener wohl gute Gene. Andererseits ist die Power, die sie im Slalom entwickeln kann, das Resultat von 13 Jahren Arbeit im Weltcup. «Ich kann vielleicht nicht mehr gleich viele Gewichte stemmen wie früher. Dafür kann ich jene Kraft, die ich habe, besser einsetzen. Dadurch bin ich explosiver.»
Trainer Brill hat Holdener schnell gemacht
Holdeners langjähriger Coach Christian Brill ist mitverantwortlich für ihre schnellen Muskeln. Ob bei modernen Geräten, die Holdener bei Kniebeugen nach unten ziehen, oder bei klassischen Sprungformen und «Leiterli-Übungen» mit kurzen Bodenkontaktzeiten – Brill weiss genau, wie er seine Athletin agil macht. «Wendy kann ihre Muskeln besser ansteuern als früher. Das hilft ihr, auch in schwierigen Situationen zwischen den Toren blitzschnell zu reagieren.»
Am kommenden Wochenende in Levi (Fi) will Holdener ihre Explosivität unter Beweis stellen – die ersten beiden Slaloms des Winters stehen an. Sicher ist schon jetzt, dass sie zu den heissesten Siegesanwärterinnen zählen wird – nicht nur wegen ihrer körperlichen Verfassung. Holdener hat ihre Technik im Sommer weiter verfeinert («Ich stehe höher, habe eine schmalere Skiführung») und hat jene innere Ruhe gefunden, die ihr in früheren Jahren zuweilen gefehlt hatte.
Holdener fährt, um zu gewinnen
Körper, Technik, Kopf: Der Gewinn ihrer ersten beiden Weltcupslaloms in der letzten Saison war eine Folge von Holdeners Entwicklung. «Ich habe nicht nur Erfolge gefeiert, sondern auch Enttäuschungen erlebt – sie haben mich abgehärtet», sagt sie. Tatsächlich fuhr Holdener lange um gute Platzierungen. Seit der WM 2021 in Cortina (It) hat man jedoch den Eindruck, dass sie stets den Sieg im Kopf hat. «In den letzten zwei Jahren habe ich tatsächlich einen grossen Schritt gemacht», bestätigt sie.
Das Verpassen der WM-Goldmedaille in Méribel (Fr) im letzten Februar passt in dieses Bild: Holdener war die Beste, riskierte viel und schied mit Gold vor Augen aus. «Das war brutal hart, es fehlte so wenig. Gleichzeitig hatte ich die richtige Einstellung – es wäre schlechter gewesen, den Lauf zu verbremsen.»
«Eine Ruhe wie nie zuvor»
Und heute? Holdener hat einen guten Sommer hinter sich. Der 22. Platz zum Weltcup-Auftakt in Sölden war zwar nicht das, was sie sich erhofft hatte. Sie weiss aber, dass der Weg im Riesenslalom an die Spitze steinig ist. Ganz anders im Slalom – da ist Holdener top. «Da spüre ich eine Ruhe, wie nie zuvor», sagt sie. Am kommenden Samstag ist es damit spätestens vorbei: Holdener ist bereit, auf der Piste zu explodieren.