In einer Grossstadt könnte Joana Hählen nie leben. «Ich würde die Natur zu fest vermissen. Ich gehöre in die Berge», sagt die 30-Jährige.
Zwar wohnt sie seit vier Jahren in Münsingen BE, ihre Heimat ist und bleibt aber die Lenk BE. Hier wuchs sie auf, hier lief sie alleine in den Kindergarten, hier machte sie sich als Jugendliche auf, die Ski-Welt zu erobern. Sie träumte davon, es in den Weltcup zu schaffen.
Das gelang ihr längst. Nun ist ihr Wunsch ein anderer: «Der erste Sieg.» Die Voraussetzungen dafür sind so gut wie nie zuvor, Hählen hat den besten Saisonstart ihrer Karriere hinter sich, sie wurde in der Abfahrt schon zweimal Neunte und einmal Vierte. In St. Anton (Ö), wo sie vor zehn Jahren ihr erstes Europacuprennen gewann, will sie daran anknüpfen.
«Das ist mein Rückzugsort»
Zurück an der Lenk. Blick begleitet die Speed-Spezialistin auf einem Rundgang durch das 2248-Seelen-Dorf. Der Start erfolgt bei ihrem Elternhaus, zu dem sie auch heute noch immer wieder zurückkehrt und dort übernachtet. «Etwa zehnmal pro Winter», wie sie sagt. Weiter gehts an Chalets und Bauernhäusern vorbei bis zum Lenkerseeli. «Als Kind besuchte ich den Spielplatz und schaute den Enten zu. Und auch heute ist das noch mein Rückzugsort, hier mache ich am Ufer oft Yoga.»
Beim Fotoshooting am Ufer wird Hählen immer wieder gegrüsst. «Mein Vater war Dorfarzt, er hatte eine Praxis bei uns im Haus. Dadurch kennen mich wohl fast alle hier persönlich, von klein auf», erklärt sie. Arzt? Das ist ein gutes – oder im Fall von Hählen eher ein schlechtes – Stichwort. Denn sie kennt sich in Operationssälen besser aus, als ihr lieb ist. Hählen riss sich in ihrer Karriere dreimal das Kreuzband – 2011, 2014 und 2018. Beim letzten Mal verzichtete sie auf eine chirurgische Rekonstruktion – so wie einst Ex-Ski-Crack Carlo Janka. Heute sagt sie: «Es war die vielleicht beste Entscheidung in meiner Karriere.»
Hählen hat wieder Vertrauen in den Körper
Die ersten Jahre ohne ganzes Kreuzband waren für Hählen nicht einfach. Sie hatte bei Überbelastungen immer wieder Schmerzen. Das ist vorbei – sie spürt auch keine Angst mehr, wenn sie mit 120 km/h über einen Sprung donnert. Das Vertrauen in den Körper ist zurück, betont Hählen. «Ich fühle mich so fit wie noch nie.» Als Beweis dafür, wie gut ihre Knie halten, steigt Hählen auf einen Baumstrunk gleich am Ufer des Sees und springt in Superwoman-Pose herunter. «Das hätte ich vor zwei Jahren niemals tun können. Auch der Kopf hätte dabei nicht mitgemacht.»
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Hählen gilt seit jeher als Draufgängerin. Als eine, die auf der Piste keine Risiken scheut. Für manch einen hat sie das Image einer Bruchpilotin. Zu Unrecht, wie sie findet. «Ich bin in meiner Karriere höchstens vier oder fünf Mal heftig gestürzt.» Sie nehme sich am Start jedenfalls nicht vor, besonders viel zu riskieren. «Wenn ich frech fahre und nicht zu viel überlege, bin ich am schnellsten.»
«Der Weltcupsieg ist mein Traum, dafür gebe ich alles»
Wir verlassen den Lenkersee, fahren hinauf auf den Metschstand auf 2100 Meter – die Bergbahnen lassen für ihre Botschafterin gerne die Gondel laufen, obwohl die Ski-Saison bei unserem Besuch noch nicht begonnen hat. Oben angekommen, wird Hählen sofort warm ums Herz. «Hier hat alles angefangen», sagt sie und zeigt auf einen Schlepplift. «Wir sind bis zum Eindunkeln Ski gefahren, das war eine tolle Zeit.»
Kurze Zeit später, nachdem wir wieder an der Lenk sind, haken wir noch einmal nach: Holt Hählen in diesem Winter ihren ersten Weltcupsieg? Sie schmunzelt und meint: «Das ist mein Traum. Ich werde alles geben, dass er in Erfüllung geht.» Sicher ist: Ganz Lenk wird ihr die Daumen drücken, damit es klappt.