Lara Gut-Behrami (32) ist keine, die um den heissen Brei herumredet. «Vielleicht sollten die Serviceleute mit den Ski im Zimmer schlafen», sagt sie. Was witzig tönt, hat einen ernsten Hintergrund. Denn: Seit dem Verbot der FIS von fluorhaltigem Wachs geht im Skisport die Angst vor Sabotage um. «Jemand könnte beim Vorbeilaufen die Ski mit einem Fluorspray kontaminieren», sagt die Tessinerin.
Es gibt viele weitere Unsicherheiten wegen der neuen Regel. Seit längerem wird daran gezweifelt, ob die Testgeräte der FIS tatsächlich über alle Zweifel erhaben sind. In der Testphase ist es vorgekommen, dass sie bei neuen Skibelägen, die garantiert nie mit Fluor in Berührung gekommen sind, rot aufgeleuchtet haben. Rot? Das wäre das Signal, dass ein Ski den Fluor-Grenzwert von 0,99 überschreitet – der Fahrer würde so disqualifiziert.
FIS hebt Grenzwert von 1,0 auf 1,8 an
Wenige Stunden vor dem Saisonauftakt in Sölden wird das Fluor-Thema im Ötztal heiss diskutiert. Die FIS beschwichtigt offenbar – die Testgeräte seien einwandfrei. Gleichzeitig macht das Gerücht die Runde, dass man den Toleranzwert auf 1,8 angehoben habe. Davon hat auch Alpin-Direktor Hans Flatscher gehört. «Wenn die Geräte imstande wären, richtig zu messen: Warum ist der erlaubte Wert dann nicht sogar 0,0 oder zumindest nur ganz leicht darüber? Wahrscheinlich sind die Geräte nicht zuverlässig genug.»
Blick fragt bei der FIS nach, ob die Gerüchte um die Anhebung des Grenzwerts auf 1,8 tatsächlich stimmen. Am Donnerstag, kurz vor 22.00 Uhr, folgt die Antwort: «Die Schwelle für Skitests im Zielbereich wird bis 31. Dezember 1,8 betragen. Für Ski, die vor dem Wettkampf überprüft werden, bleibt es bei 1,0. Nach dem 31. Dezember ist es immer 1,0.» Vor dem Wettkampf? Diese Tests sind freiwillig und erfolgen einen Tag vor dem Start.
«Der Druck auf die Serviceleute steigt»
Zurück zu Gut-Behrami. Ganze 8 Minuten und 40 Sekunden lang spricht sie über das Thema. Weil sie immer wieder danach gefragt wird, klar – aber auch, weil es sie sichtlich beschäftigt. Sie hat nichts gegen das Verbot, das betont sie immer wieder. Zur Einordnung: Diverse Fluorverbindungen sind Expertisen zufolge nicht abbaubar und können somit Mensch und Umwelt einen geringen Schaden zuführen.
«Aber es herrscht eine grosse Ungewissheit bei uns. Der Druck auf die Serviceleute steigt. Denn fahre ich eine gute Abfahrt, verliere aber eine halbe Sekunde, was soll der Servicemann dann sagen? Ich habe nicht beschissen, aber vielleicht haben es andere getan? Ich werde nicht zu meinem Servicemann gehen und sagen: ‹Versuch es!› Aber wenn ich jedes Mal denke, vielleicht liegt es daran, dass es die anderen doch weiter benutzen, wäre das nicht gut.»
Ehrenkodex? Gut-Behrami glaubt nicht dran
Noch sind viele Fragen offen. Zum Beispiel: Baut sich das Fluor tatsächlich schon nach 15 Fahrsekunden, wie einige vermuten, stark ab? Wäre es möglich, dass saubere Ski verunreinigt werden, wenn sie über fluorhaltigen Schnee fahren? Werden bei Speed-Rennen die Ski aller, bei Technik-Rennen aber tatsächlich nur jene ausgeloster Athleten überprüft?
An einen Ehrenkodex, dass nicht geschummelt wird, glaubt Gut-Behrami nicht. Wieso auch? Wenn nicht mit Sabotagen, könnte man immerhin versuchen, den Fluor-Grenzwert auszuloten, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Gut-Behrami erklärt, dass bei Abfahrtstests in Zermatt VS die Ski mit Fluor zwischen sechs Zehntel und einer Sekunde schneller gewesen seien als jene ohne. Flatscher kann das nicht bestätigen.
Er sieht die Lösung des Problems in einem grösseren Zusammenhang: Fluorhaltiger Wachs müsste überall verboten werden. Das ist derzeit nicht der Fall, jeder Hobbyskifahrer kann es sich auf die Latten schmieren. «Es geht nur über die gesetzliche Ebene. Entweder alle oder niemand. Würde man dann betrügen, machte man sich strafbar – und das würde garantiert niemand wollen.»
Rast: «Das macht keinen Sinn»
Tatsächlich hätte heute ein Weltcupfahrer, der zu viel Fluor auf den Ski hat, nichts zu befürchten. Er würde disqualifiziert – mehr aber nicht. Auch die Skifirmen und Verbände würden nicht sanktioniert. Vor allem für schwächere Athleten und ihre Teams wäre das ein Anreiz, um zu betrügen.
Die Schweizer Technikerin Camille Rast (24) sagt: «Wenn jemand in einer Abfahrt die Startnummer 50 oder 60 hat, könnte er oder sie sich sagen: Ich probiere es mit Fluor. Vielleicht gibt es ja keine Disqualifikation.» Für die Walliserin ist klar: «Das macht keinen Sinn.»
Chaos? «Haben wir jetzt schon»
Gleichzeitig würde sich Gut-Behrami die Möglichkeit wünschen, bei rot leuchtenden Lampen zu rekurrieren. «Wie bei einer B-Probe in einem Dopingfall», sagt sie. Auch das sieht die FIS nicht vor – oder sie kommuniziert es zumindest nicht.
Das System sei nicht ausgereift, sagt Gut-Behrami. Bis zu 30 Topathletinnen und -athleten hätten der FIS einen Brief geschrieben, um das klarzustellen. «Auch beim Herbst-Meeting der FIS haben mehrere Verbände, auch wir, Bedenken angemeldet. Die Diskussion kommt also nicht aus heiterem Himmel», so Flatscher. Seine Sorge ist die gleiche wie die von Gut-Behrami: «Wir wollen fairen Sport. Das ist das Wichtigste überhaupt.»
Droht nun ein Chaos? Rast: «Das haben wir jetzt schon. Es gibt viele Gerüchte, aber leider zu wenig offizielle Informationen.»