Zu wenig Geld für eine Ski-Karriere
Das Elternhaus von Kilian Wenger (34) steht auf dem Diemtigtaler Horboden, ganz in der Nähe der Bergstation des Skilifts Springenboden. «Als Kind fuhr ich regelmässig Ski-Rennen. Bis mir meine Eltern erklärten, dass ich damit aufhören muss», erzählte er Ende April im Blick-Interview. Ihnen fehlte das Geld für die Ausrüstung und den Mitgliedsbeitrag. Da Wenger schon damals eher zum kostengünstigeren Schwingen tendierte, reagierte er als Drittklässler relativ gelassen auf die Entscheidung seiner Eltern.
Der erste Kranz
Am Mittelländischen Schwingfest 2007 in Schwarzenburg durfte der damals 17-jährige Wenger erstmals vor die Ehrendamen treten und sich das Eichenlaub aufsetzen lassen. An diesem Tag liess er sich nur vom Eidgenossen Christian Dick bezwingen. Inzwischen hat der Berner 110 Kränze gewonnen.
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Der Königstitel
Mit einem Schlag wurde Kilian Wenger in der ganzen Schweiz bekannt. Am Wochenende vom 21./22. August 2010 schwang er sich in die Herzen der Zuschauer. Wenger gewann in Frauenfeld TG alle acht Gänge und krönte sich nach dem Schlussgang-Sieg über Martin Grab zum Schwingerkönig. Von da an sollte nichts mehr so sein wie zuvor. «Am schwierigsten war es, vom einen auf den anderen Tag eine öffentliche Person zu sein und alles können zu müssen», wird er später einmal sagen. Wenger gilt als Gesicht des Schwing-Booms in der Neuzeit.
Wenig Erfolg – viel Kritik
Nach seinem Königstitel tat sich Wenger schwer. Er sammelte reihenweise Spitzenplätze, aber nur zwei Kranzfestsiege (Berner Kantonales und Berner Mittelländisches). Zum Vergleich: Jörg Abderhalden feierte nach seinem Königstitel 1998 in der gleichen Zeitspanne neun Kranzfestsiege und gewann den Unspunnen-Schwinget. Besser waren auch die Könige Adrian Käser, Silvio Rüfenacht, Thomas Sutter und Nöldi Forrer. Aufgrund dieser Statistik titelte der Blick: «Der schlechteste Schwingerkönig seit 15 Jahren».
Falsches Umfeld?
Die ausbleibenden Erfolge lösten in Schwingerkreisen heftige Diskussionen aus. Im Blick meldeten sich 2012 Weggefährten Wengers zu Wort. Im Zentrum der Kritik standen sein Kondi-Trainer Roland Fuchs und sein Manager Beni Knecht. «Weil Kilian von Knecht bis zum Gehtnichtmehr vermarktet wird, muss er derart vielen PR- und Medienterminen nachkommen, dass er im letzten Jahr 40'000 Kilometer mit dem Auto zurücklegen musste. Dass deshalb die Kraft und die Konzentration für den Schwingsport auf der Strecke bleiben, versteht sich von selbst», erklärt Thomas Klossner, der während zehn Jahren technischer Leiter von Wengers Stamm-Schwingersektion Niedersimmental war.
Stefan Knutti, ein erfolgreicher Kondi-Trainer bei den Nordwestschweizer Schwingern, meinte: «Bereits zwei junge Schwinger aus der Fuchs-Trainingsgruppe mussten sich wegen einer Hüft-OP unters Messer begeben. Zuletzt hat sich auch Kilian über zunehmende Hüft- und Rückenprobleme beklagt. Deshalb sollte Fuchs seine Trainings- und Belastungsphilosophie ernsthaft hinterfragen.» Trotz heftigem Gegenwind hielt Wenger an seinem Team fest.
Titelverteidigung verpasst
Bereits nach zwei Gängen zeichnete sich ab, dass es in Burgdorf 2013 einen neuen König geben wird. Das Königs-Duell zwischen Kilian Wenger und Nöldi Forrer endete gestellt. Und um genau 11.14 Uhr lag der Berner gegen den Luzerner Martin Koch auf dem Rücken. Als endgültig gescheitert durfte die Mission Titelverteidigung nach dem sechsten Gang bezeichnet werden. Wenger stellte gegen den Eidgenossen Andy Büsser. Letztlich klassierte sich der Diemtigtaler auf Kranzrang acht. Matthias Sempach bestieg den Königsthron.
Das turbulente Jahr 2014
Nach dem enttäuschenden ESAF-Auftritt in Burgdorf zeigte Wenger eine bärenstarke Reaktion. In der Saison 2014 gewann er auf dem Stoos, auf dem Weissenstein und auf dem Brünig. Drei Bergfest-Siege in einem Kalenderjahr schafften neben Wenger nur Jörg Abderhalden (2007) und Martin Grab (2002). Den Saisonhöhepunkt Kilchberger Schwinget musste Wenger wegen Rückenproblemen absagen. Neben den Erfolgen im Sägemehl lief es ihm auch privat wunderbar. «Ich werde Anfang Juni mit meiner Freundin Kathy die erste gemeinsame Wohnung beziehen», erzählte er damals Blick.
Nur etwas drückte kurzzeitig auf seine Stimmung. Wenger hatte einen Autounfall. Auf dem Weg zu einer Buchvernissage im Diemtigtal verlor er die Kontrolle über seinen Wagen, kam von der Fahrbahn ab und prallte frontal gegen einen Baum. Das Auto erlitt Totalschaden, Wenger kam mit leichten Verletzungen davon. «Es ging alles sehr schnell, ich weiss nicht genau, wie das passieren konnte», sagte Wenger.
Das verschwundene Buch
Drei Tage vor der Vernissage zog Wenger 2015 seine Biografie zurück. «Ich habe an Weihnachten den Entwurf gesehen und wollte einiges umgeschrieben haben. Das ist nicht passiert, darum habe ich das Projekt gestoppt», sagte der Schwingerkönig damals. Geschrieben haben es der freie Journalist Christian Boss und seine Frau. «Es trifft uns schon. Weil es ein gutes Buch ist. Wir kennen Kilian jetzt wohl besser als er sich selber. Aber wir müssen den Entscheid respektieren», sagte er.
Spiel mit dem Feuer
Wenger strebte auf dem 3466 Meter hohen «Joch» den höchsten Feuerlauf der Geschichte an. Das wäre gleichbedeutend mit einem Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde. Der Berner absolvierte die Mutprobe 2016 zusammen mit Königin Sonia Kälin, Kranzschwinger Ruedi Roschi und Weltcup-Abfahrer Nils Mani. «Wir haben uns mit Meditationen sechs Stunden vorbereitet – jetzt ist nichts unmöglich!» Bevor Wenger über die fünf Meter lange Glutbahn lief, schrieb er einen seiner sehnlichsten Wünsche auf ein Papier und warf es ins Feuer. «Wenn ich ihn jetzt verraten würde, geht er vielleicht nicht in Erfüllung...» Unter der Leitung des Berner Feuerlauf-Trainers Tinu Leuenberger brachte Wenger die Mutprobe erfolgreich hinter sich.
Spezieller Sieg gegen Stucki
Im Schlussgang des Berner Kantonalen 2017 gelang Kilian Wenger die grösste Sensation seit seinem Königstitel 2010 in Frauenfeld. Er bodigte den bis dahin unantastbaren Christian Stucki und feierte den 19. Kranzfestsieg seiner Karriere. Für Wenger war es der erste und einzige Sieg gegen den 150-Kilo-Mann Stucki. Zuvor blieb er in 16 Kämpfen ohne Erfolg. Was den Triumph am Berner Kantonalen umso spezieller machte. «Es hat in der Vergangenheit viele Wettkämpfe gegeben, in denen ich wie blockiert war, weil ich bei jedem Zug die riesige Erwartungshaltung der Leute gespürt habe. Aber jetzt habe ich ein Alter erreicht, in dem ich besser mit diesem Druck umgehen kann. Und ich schwinge jetzt in erster Linie für mich selber», sagte der damals 27-jährige Publikumsliebling.
Erstmals Vater
Am 8. April 2019 erhielt Wenger ein besonderes Geschenk. An diesem Tag kam seine erste Tochter zur Welt. «Überglücklich und dankbar darf ich euch die Geburt unserer Tochter bekannt geben», schreibt der Berner Oberländer auf Facebook. «Willkommen kleine Mena Léanne.» Mittlerweile ist die Familie zu viert. Im September 2021 kam Remo Darian zur Welt. Seine Partnerin Kathy Hunziker lernte Wenger im Februar 2013 in Kirchberg BE in einem Schlagertempel kennen.
Berner Einteilung zu nett?
Dass Wenger nach seinem Königstitel nicht, wie von vielen Experten erwartet, den Schwingsport dominierte, hat mehrere Gründe. Der Druck machte ihm zu schaffen, dazu kamen körperliche Probleme und eine starke Konkurrenz. Für den Hasliberger Christian von Weissenfluh, Schlussgangteilnehmer 1993 am Unspunnen, war aber noch etwas anderes entscheidend: «Weil Kilian auch bei den Einteilungs-Komitees im Bernbiet enorm viele Sympathien geniesst, ist er bei vielen Wettkämpfen in seinem Teilverband oft zu leicht zu Festsiegen gekommen. Damit haben die Berner Einteiler diesem genialen Schwinger für die eidgenössischen Ausmarchungen nichts Gutes getan, er hätte sich leichter getan, wenn er sich regelmässig mit den Top-Leuten hätte messen können.» Mit dieser Ansicht ist der Berner nicht alleine.
Die letzten grossen Siege
Ein gestellter Schlussgang gegen Christian Stucki reichte Wenger zum Triumph am Berner Kantonalen 2021. Wenige Wochen zuvor hatte er auf dem Brünig gewonnen. Im Schlussgang bezwang Wenger seinen Jugendfreund Ruedi Roschi nach wenigen Sekunden. Beim Saisonhighlight, dem Kilchberger Schwinget, stiess er bis in den Schlussgang vor. Dort war Samuel Giger zu stark. In den folgenden Saisons konnte er kein Kranzfest mehr gewinnen.
Der Zeit-Skandal
Am Oberaargauischen 2023 profitierte Wenger von einem Kampfrichter-Fehler. Sein Gang gegen Adrian Odermatt endete nicht wie üblich nach sechs Minuten. Der Kampfrichter liess die beiden weiterschwingen. So konnte Wenger seinen Gegner nach 7:03 Minuten auf den Rücken legen. Auf diese Saison hin wurde das Reglement aufgrund dieses Fehlers angepasst.
Der letzte Auftritt
Am 2. August 2024 um 14.00 Uhr verkündet Kilian Wenger: «Ich trete per sofort zurück.» Der Rücken macht nicht mehr mit. 17 Jahre nach seinem ersten Kranz geht damit eine grossartige Karriere zu Ende. Wenger dürfte am Sonntag in einer Woche am Berner Kantonalen vor knapp 12'000 Zuschauern verabschiedet werden.