Es ist an einem Samstag im Juni 2017, als Remo Hunsperger auf einer Autobahn in Österreich ein schockierender Anruf seiner weinenden Schwester Fränzi erreicht: «Unser Vater hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Er ist dabei gescheitert, befindet sich nun auf dem Weg ins Krankenhaus.»
Hunsperger junior hat panische Angst, dass sich sein Erzeuger bei diesem Selbstangriff mit der Schusswaffe im Gehirn verletzt hat. So schwer, dass er für den Rest seines Lebens das Dasein eines geistig Behinderten fristen wird. Doch die Schwester gibt Entwarnung: «Vater ist bei vollem Bewusstsein. Wenn du willst, kannst du ganz normal mit ihm reden.»
Tatsächlich haben Remo und Fränzi ab diesem Zeitpunkt noch einige schöne Gespräche mit ihrem berühmten «Päpu» geführt. Aber es gab danach vor allem zwischen Vater und Sohn auch einige sehr ernsthafte Diskussionen.
«Ich hatte grundsätzlich Verständnis für sein Vorhaben, sich umzubringen. Seit mein Vater im Jahr 2000 eine verunreinigte Spritze in den Rücken erhalten hat, die eine Blutvergiftung und zahlreiche heftige Infekte verursachte, war seine Lebensqualität zeitweise wirklich ganz mies. Aber man musste ihm klarmachen, dass es für einen selbstbestimmten Tod kultiviertere Methoden gibt als eine Pistole.»
Das letzte schöne Jahr
Das hat Ruedi Hunsberger dann auch ziemlich schnell kapiert. Drei Wochen nach seinem Suizidversuch zahlte der Überschwinger, der die Krone 1966, 69 und 74 erkämpft hat, erstmals den Mitgliederbeitrag bei der Freitodbegleitung Exit ein. «Ab diesem Zeitpunkt hatten wir noch ziemlich genau ein sehr schönes Jahr mit ihm», erinnert sich Remo. «Päpu hat plötzlich wieder neuen Lebensmut getankt, er hatte wieder richtig Freude, wenn er mit seinen Kollegen in seiner Stammbeiz direkt an der Aare sitzen konnte.»
Hunspergers bester Freund war gleichzeitig einer seiner gefährlichsten Widersacher im Sägemehlring. Die Rede ist von Fritz Uhlmann. 1974 hat sich der gebürtige Emmentaler im Eidgenössischen Schlussgang in Schwyz mit Hunsperger duelliert: «Obwohl ich diesen Zweikampf verloren habe, hat unsere Freundschaft überhaupt nicht darunter gelitten. Am nächsten Tag sind wir gemeinsam in die Ferien nach Südfrankreich gefahren.»
Dort kam dann sogar das Gerücht auf, dass Hunspergers dritter Königs-Titel auf einem Bestechungs-Skandal basiere! Warum? Ruedi führte damals eine Auto-Garage, Uhlmann kaufte ihm einen BMW ab. Als die beiden in Südfrankreich an der Hotel-Bar ein paar Bier tranken, wurden sie von Schweizer Gästen erkannt. Einer ging zu Uhlmann hin und fragte: «Werum hesch der Hunspärger ds Schwyz im Schlussgang nid mögä?» – «I weiss es oh nid, aber uf jedä Fau ha i jetzt es schöns Outo vom Rüedu!»
Nun macht Uhlmann aber unmissverständlich klar, dass er sich in Schwyz nicht absichtlich auf den Rücken gelegt hat, weil er von Hunsperger zu günstigen Konditionen einen schicken Flitzer erhalten hat: «Rüedu hat mich besiegt, weil er in solch entscheidenden Gängen viel bessere Nerven hatte als ich.» Im Sommer 2018 ist Hunsperger mit seinen Nerven aber am Ende. «Vater hat dann auch noch einen Schlaganfall erlitten. Kurz darauf fasste er den Entschluss, mit Hilfe von Exit zu sterben», erzählt Remo Hunsperger.
Ein letztes Lächeln vor der tödlichen Erlösung
Ruedi gab sich aber noch genügend Zeit, sich in gebührender Manier von seinen Freunden zu verabschieden. Am Tag vor seinem Ableben bestellte er Fritz Uhlmann zu sich ins Spital. «Rüedu hat mir die Hand gereicht und gesagt: ‹Danke, Fridu, für die wunderbare Zeit, die ich mit dir erleben durfte.›»
Weil in Krankenhäusern keine Sterbehilfe geleistet werden darf, wurde der 65-fache Kranzgewinner am 17. August noch einmal in seine Wohnung nach Zollikofen BE transportiert. Dort traf am folgenden Morgen kurz vor 10 Uhr eine Frau von Exit ein. «Die Dame war sehr angetan von der friedlichen Stimmung, die bei uns in diesem Moment herrschte», erinnert sich Remo. «Sie hat uns verraten, dass sie es oft erleben würde, dass es in solchen Situationen noch einmal zu einem grossen Familienstreit kommt, weil einige Angehörige nicht akzeptieren wollen, dass sich jemand für den Freitod entschieden hat.»
Bei den Hunspergers waren sich in diesem Moment alle einig, dass ihr Familienoberhaupt die richtige Entscheidung getroffen hat. «Bevor ihm die Sterbehelferin das tödliche Mittel gereicht hat, hat Vater zu meiner Tante, zu meiner Schwester und mir geschaut und gesagt: ‹Ich freue mich auf die Erlösung!› Danach hat er ein letztes Mal gelacht.»
Um 10.45 Uhr hat der aussergewöhnliche Kämpfer seine Augen für immer geschlossen. Die Hinterbliebenen haben auf eine spezielle Art reagiert. «Die Familie hat sich ein paar Stunden später in der Bar meiner Mutter versammelt, wo wir mit einem Lachen im Gesicht auf Vaters Leben angestossen haben. Einer meiner Bekannten verstand es nicht, dass wir schon wieder lachen konnten. Wir haben es getan, weil sich Rüedu das genau so gewünscht hat.»
Das goldene Andenken
Den Wunsch, dass auch sein Stammhalter ein richtig böser Schwinger wird, hatte «Rüedu» nie. «In meiner Kindheit war Schwingen in unserem Haushalt überhaupt kein Thema. Vater fand es toll, dass ich im Nachwuchs von YB Fussball spielte.» Bei den B-Junioren kickte Remo mit den späteren Profis Luca Ipoliti und Martin Lengen zusammen. «Einmal durfte ich bei den A-Junioren an der Seite von Guillermo Gottardi spielen, der später eine schöne Karriere bei Lazio Rom gemacht hat.»
Im Alter von 19 Jahren wurde aus Remo doch noch ein Schwinger. «Ich habe einen Kurs besucht, den mein Vater geleitet hat. Bis dahin habe ich Schwingen als totalen Blödsinn bezeichnet. Aber da hat es mir richtig den Ärmel reingezogen.»
Trotz spätem Start hat Remo Hunsperger zwischen 1993 und 1998 immerhin 19 Kränze gewonnen. Viel mehr als das Eichenlaub bedeutet ihm aber die goldene Kette, die der selbständige Gartenbauer um den Hals trägt. «Die Kette hat mein Vater getragen. Wenige Tage vor seinem Tod sagte er zu mir: ‹Das einzig Wertvolle, was ich noch habe, ist diese Kette. Sie gehört von nun an dir.›» Er war eben ein richtig goldiger Mensch, dieser Ruedi Hunsperger.