Das hat der Radsport selten erlebt. In Topform und als Gold-Favoritin rast Marlen Reusser (31) beim WM-Zeitfahren in Schottland dem Ziel entgegen, als sie 16 km vor dem Ziel plötzlich den Kopf schüttelt, das Velo hinstellt und ins Gras am Strassenrand sitzt. Im Schneidersitz und in Tränen aufgelöst, wird sie dann von Nationaltrainer Edi Telser umarmt. Stundenlanges Rätselraten, warum die Bernerin aufgegeben hat. Bis am Abend ihre Erklärung kommt. Und die hat es in sich.
«Im Rennen wäre der Teil gekommen, in dem ich hätte aufdrehen sollen. Aber ich hatte keinen Bock darauf – wirklich nicht. Und dann habe ich einfach gestoppt.» Genau in dem Rennen, in dem Reusser nach zwei WM-Silbermedaillen und einmal Bronze erstmals Gold hätte holen können. Einfach so keinen Bock mehr? Natürlich steckt viel mehr dahinter.
«Eine Endlosschlaufe»
Fast zehn Minuten dauert die Erklärung, die Reusser im Interview mit SRF gibt. Es war kein technisches Problem, das sie stoppte. Es war auch keine Verletzung nach ihrem Sturz am Dienstag bei der Gold-Fahrt im Mixed-Zeitfahren. Nein, die beste Schweizer Radfahrerin, die in diesem Jahr so viele Erfolge feierte, war im Hamsterrad gefangen. Ihr wurde es einfach zu viel.
Reusser erklärt: «Ich habe alles Mögliche gewonnen. Aber es ist nie ein Moment gekommen, wo ich aufatmen und mich freuen konnte. Nach dem Tour-de-Suisse-Sieg musste ich schon wieder an die Tour de France und die WM denken. Eine Endlosschlaufe.» Radsport betreibe man nicht, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen, sondern man müsse dafür brennen. «Aber man kann nicht in einer solchen Sukzession immer Lust darauf haben. Wir haben so viele Events. Es ist ein Nonstop. Und das seit Jahren.»
Sie brannte gar nicht mehr für die WM
So ist sie beim WM-Rennen einfach vom Velo gestiegen. Was für viele Radsportler einer der wichtigsten Anlässe des Jahres ist, hat für Reusser durch die vielen Rad-Highlights im Jahr an Bedeutung verloren. «Die WM ist für mich aus den vielen Events nicht herausgeleuchtet. Ich muss Abstand nehmen, dass der Hunger wieder kommt. Aber der fehlt im Moment.»
Mehrmals betont Reusser, wie privilegiert sie ist. «Ich bin so verwöhnt, habe die beste Unterstützung, das beste Material, die beste Form.» Sie versteht deshalb, dass die Entscheidung auch auf Unverständnis stossen könnte. Aber das war auch der Grund, warum sie nicht früher aus dem Hamsterrad ausbrach. Es hätte von aussen keinen Sinn gemacht.
Einfach keine Pausen
Aber sie wusste schon lange, dass sie eine Pause gebraucht hätte, um sich auch über ihre Erfolge zu freuen. Andeutungen in diese Richtung machte sie schon nach ihrem Schweizer Meistertitel Ende Juni. Doch dann standen für sie die Tour de France und eben die WM vor der Tür.
Reusser hat weitergemacht. «Für die Tour habe ich mich zusammengerafft – und das ja erfolgreich.» Nun hat die WM als nächster Grossanlass hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Aber vielleicht steht sie am Sonntag beim Strassenrennen wieder am Start, das schliesst sie nicht aus. Klar sei, dass sie wieder erfolgreich Rennen fahren werde. Aber dabei will sie mehr auf sich hören.
Und nicht nur auf sich. Reusser bringt bei der Erklärung eine Botschaft mit. «Im Sport gibt es oft die Pole, die ausgeschlachtet werden. Das zauberhafte Erfolgsleben, oder dann die, die eine Depression oder Krebs haben. Aber alle Nuancen dazwischen finden wenig Besprechung. Ich finde, dass man das gut hören darf. Wahrscheinlich gibt es ganz viele Leute, die einmal eine Pause brauchen.»