Welche Note von 1 bis 10 gibt sich Marc Hirschi (22) für seine Saison? Er zögert keine Sekunde. «Ganz klar, die 10!» Er hat recht. Denn: Was Hirschi in den letzten Monaten zeigte, übertraf alle Erwartungen. In Zahlen ausgedrückt liest sich das so: drei Podestplätze bei der Tour de France, davon ein Sieg. Dazu zwei Tage im weissen Trikot des besten Youngsters. Dann die Bronzemedaille im WM-Strassenrennen gefolgt vom Sieg bei Flèche Wallonne und Platz zwei bei Lüttich–Bastogne–Lüttich. «Das hätte ich niemals erwartet», sagt er. Auch darin ist seine selbst bestimmte Bestnote begründet. Denn: Überheblichkeit ist dem ruhigen, schlauen Berner aus Ittigen fremd. Er ist schlicht überwältigt von den Ereignissen der letzten zwei Monate.
«Hurricane Hirschi» ist sein neuer Spitzname
Hirschis Erfolge blieben nicht unbeachtet. Im Gegenteil, sein kometenhafter Aufstieg wurde weltweit gefeiert. Die Briten verpasstem dem explosiven Youngster gar einen neuen Spitznamen: «Hurricane Hirschi», Wirbelsturm Hirschi also. «Da muss ich schon schmunzeln. Aber er gefällt mir», so der Sunweb-Profi. Gleichzeitig suchten die Stars der Szene vor den Rennen je länger, desto mehr seinen Namen auf den Startlisten. Denn: War Hirschi dabei, musste man auch auf ihn aufpassen. «Man schaut jetzt auf mich und sucht mein Hinterrad. Das ist nicht immer einfach», so Hirschi.
Klagen will er aber nicht. Im Gegenteil, er freut sich über die Aufmerksamkeit, «weil ich jetzt viel mehr respektiert werde und mir das im Rennen mehr hilft als schadet.» Wie zeigt sich das? Hirschi erzählt von einem Moment bei der Flèche Wallonne: «Ich war im Finale dabei, hatte aber keine Teamkollegen mehr. Trotzdem liess mich das Team Ineos mit Leader Kwiatkowski mitfahren. Früher wäre das unmöglich gewesen, jemand hätte die Ellbogen ausgefahren und mich weggedrückt.»
Hirschi fühlt sich wohl in seiner neuen Rolle. Auch wenn er weiss, «dass in der nächsten Saison die Erwartungen steigen werden.» Trotzdem: Dass Stars wie Primoz Roglic mittlerweile mit ihm plaudern, freut ihn. «Er ist viel sympathischer, als er von aussen vielleicht wirkt», so Hirschi. Und auch mit Greg van Avermaet, dem 13 Jahre älteren Olympiasieger, hat er das Heu auf einer Bühne. «Früher habe ich zu diesen Fahrern hochgeschaut. Und jetzt gratulieren sie mir. Das ist schon cool.»
«Nur etwas nervt manchmal»
Grund zum Ärger hatte Hirschi zuletzt also kaum. «Nur etwas nervt manchmal», wendet er ein. «Als ich bei der Tour stürzte, musste ich nach dem Rennen zehnmal erzählen, warum und wie es passiert war. Dabei hätte ich das Ganze am liebsten gleich vergessen.» Solche Gedanken sind aber längst verflogen. Hirschi freut sich nun auf seine Pause. «Zwei Wochen lang rühre ich das Velo nicht an», sagt er.
Wegen Corona weiss Hirschi zwar noch nicht, was er genau tun wird. Sicher ist, dass er die Ruhe im Kreis von Familie und Freunden geniesst. «Es waren hektische Zeiten. Jetzt bin ich aber nicht mehr der Radprofi, sondern der alte Marc. Das ist sehr schön.»