Tadej Pogacar (25) dominiert den Giro nach Belieben. Fünf Etappensiege, 7:42 Minuten Vorsprung in der Gesamtwertung – es spricht alles dafür, dass er am Sonntag Rom in Rosa erreichen wird. Pogi hier, Pogi da: Der Rad-Lausbub aus Slowenien wird als Held gefeiert.
An einen Fahrer wird Pogacar allerdings nie herankommen (vielleicht will er das auch gar nicht): an Mario Cipollini. Der heute 57-Jährige feierte zwischen 1990 und 2003 sagenhafte 42 Giro-Siege. Rekord, bis heute. Vor allem aber ist die als «Re Leone» (Löwenkönig) und «Super Mario» berühmt gewordene Sprint-Rakete aus Lucca (It) die vielleicht verrückteste Figur der Velo-Neuzeit. Oder ganz einfach «der letzte Paradiesvogel des Radsports», wie ihn Oscar Camenzind (52) nennt.
Der Schweizer Weltmeister aus Gersau SZ – er holte 1998 das Regenbogentrikot – fuhr jahrelang mit Cipollini im Peloton. Und erlebte hautnah mit, wie wild, exzentrisch und aufbrausend er sein konnte. «Ich hatte es gut mit Cipo. Allerdings wohl nur, weil ich kein Sprinter war», so Camenzind schmunzelnd.
«Dann breche ich dir den Arm»
Was er damit meint? Cipollini war nicht nur ein Winnertyp. Nein, das Siegen war sein Lebenselixier. Kam ihm dabei jemand in die Quere, verfinsterte sich seine braun gebrannte Miene sofort. «Vor allem der Sprint-Zug seines Saeco-Teams war berühmt-berüchtigt», weiss Camenzind. Er berichtet, wie einst ein junger Fahrer bei einem Finale im Giro sich vorne hineindrängen wollte. Das gefiel Cippolini gar nicht. «Wenn du diese roten Handschuhe siehst, nimmst du besser zwei Meter Abstand», soll er ihm gesagt haben. Und wenn nicht? «Dann breche ich dir den Arm.»
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Nun könnte man darüber lachen. Fakt ist aber, dass der 1,89-Meter grosse Rad-Koloss tatsächlich ein rauer Zeitgenosse sein konnte. Bei der Vuelta 2000 verprügelte er nach der Etappe einen Konkurrenten und wurde ausgeschlossen. Auch Journalisten, die auf seiner eigenen «schwarzen Liste» waren, lebten gefährlich. 2022, lange nach seinem Rücktritt, verurteilte ihn ein Gericht zu drei Jahren Haftstrafe und 850’000 Euro Strafe – Cipollini soll seiner Ex-Frau nicht nur gedroht, sondern auch Gewalt angewendet haben.
Er kam als Cäsar verkleidet
«Im Kern war Cipo ein todlieber Siech», berichtet Rolf Järmann (58). Auch der Thurgauer war Profi, als Cipollini mit seinem Schmetterantritt Sieg um Sieg (total 163) hamsterte. «Aber er tickte nicht wie ein normaler Veloprofi. Einmal wartete ich am Abend in der Hotellobby auf den Lift. Mario kam dazu, er war wegen irgendwas aufgebracht. Die Türe öffnete sich. Ich entschied mich, die Treppe zu nehmen», so Järmann.
Cipollini faszinierte die Massen. Nicht nur, weil er oft siegte und gut aussah. Der Weltmeister von 2002 beherrschte auch die Kunst der Inszenierung, wobei er sich nicht zu ernst nahm. «Einmal kam er als Julius Cäsar verkleidet an den Start. Hinter ihm, in der Luft schwebend, sein Velo. Er hatte es an Heliumballonen befestigt und zog es mit einer Leine hinter sich nach», so Järmann. Für ihn ist klar: «Würde Cippo in der heutigen Zeit fahren, hätte er am meisten Follower aller Profis. Er war nicht nur gut, sondern auch ein Showman und Macho.» Übrigens: Cipollini soll jeweils darauf bestanden haben, dass morgens immer ein frisches Konfi-Glas auf dem Tisch steht. Machte es beim Öffnen nicht «Klack», wurde er wütend und ass nichts.
Pamela-Anderson-Foto auf dem Velo
Tatsächlich foutierte sich Cipollini um Konventionen und Regeln. Einmal trat er im Muskeln-und-Sehnen-Dress zu einem Rennen an, ein anderes Mal im Tiger-Kostüm. Er liess auch sein Velo nach Lust und Laune umlackieren und posierte nackt auf seinem Drahtesel. Zuweilen klebte er ein laszives Foto von Baywatch-Star Pamela Anderson auf den Vorbau seines Lenkers, um bei langen Etappen motiviert zu bleiben. «Die Geldstrafen der UCI interessierten ihn nicht im Geringsten. Und er hat sein Leben genossen, auch mit den Frauen», so Camenzind.
Auch nach seinem Rücktritt 2009 wurde es nicht ruhig um Cipollini. Er versuchte sich als Schauspieler, Trainer, im Marketing, lancierte eine Bekleidungslinie und geriet mit der Justiz in Konflikt – einmal musste er 1,1 Millionen Euro Steuern nachzahlen.
Was bleibt, ist die Erinnerung an einen den grössten Stars im Radsport. Aber auch an einen Mann, der sein Leben nicht immer im Griff hatte. So oder so: Einen wie Cipollini wird es wohl nie mehr geben.