Die Tour de Suisse der Männer ist Geschichte. Was bleibt? Erstens: Die sportlich ernüchternde Erkenntnis, dass die Schweiz keinen Etappensieger feiern konnte. Ungewöhnlich? Nein, eher normal. Fünfmal in den neun vorherigen Ausgaben gingen die Radgenossen ebenfalls leer aus. Besser macht es das nicht. Stefan Bissegger (25) fehlten beim Auftaktzeitfahren in Vaduz drei Sekunden für das grosse Glück. «Knapp daneben ist auch vorbei», sagte er zu Recht.
In der Gesamtwertung sah es nicht besser aus: Kein Schweizer hielt auch nur ansatzweise mit. Der Beste landete auf dem 15. Platz. Sein Name: Matteo Badilatti (31). Vor ihm klassierten sich Fahrer aus neun Nationen, von Mexiko über Österreich bis Portugal. Allmählich verblassen die Erinnerungen an den letzten Schweizer Tour-de-Suisse-Gesamtsieger – 15 Jahre ist es her, dass Fabian Cancellara (43) in Bern triumphierte.
Das grosse Thema der Rundfahrt waren aber nicht die fehlenden Schweizer Siege. Nein, es war Gino Mäder (1997–2023). Wäre er jener Mann gewesen, der Cancellara beerbt hätte? Die Klasse dazu hätte er gehabt, das Herz dafür sowieso. Dass man den Konjunktiv bemühen muss, tut weh.
Es gibt wohl niemandem im ganzen Tour-Tross, der nicht an seinen tragischen Tod vor einem Jahr dachte. Mäder, der Fahrer, fehlte an allen Ecken und Enden. Vor allem aber fehlte Mäder, der Mensch. Seine Ehrlichkeit, sein Lachen, seine Zweifel und seine Art, über den Rad-Tellerrand zu blicken – die Erinnerungen daran sind schön und schmerzen zugleich.
Keine Effekthascherei
Ein Jahr nach dem Unfall am Albula schwebten die Gedanken an Mäder wie eine Wolke über der Tour. Es war aber keine dunkle Wolke. Vielmehr fand der Organisator den richtigen Mittelweg, um Mäder zu gedenken – aber auch, um nach vorne zu blicken. So wurde ein Bergpreis nach seiner Stiftung benannt, Mutter Sandra überreichte die Trophäe auf dem Gotthardpass. Auch Mäders frühere Startnummer 41 wurde nicht mehr vergeben. Schliesslich fand an Ginos Todestag eine bewegende Gedenkfahrt statt. Das alles waren subtile Wege, mit denen man ihn eindrücklich, aber ohne Effekthascherei, ehrte.
Während der Tour de Suisse wurde die zweite Staffel der Netflix-Serie «Tour de France. Au Coeur du Peloton» veröffentlicht. Auch da wurde der Tod Mäders aufgenommen. Aus Kalkül? Vielleicht. Andererseits war es ein Thema, das keinen im Peloton kaltliess und darum berechtigt war.
Die Macher zeigten keine Bilder von der Unfallstelle, sondern konzentrierten sich auf die Reaktionen der Fahrer. Die Aufnahmen, wie Mäders Ex-Teamkollege und Freund Ben O’Connor (28, Aus) auf die schlimme Nachricht reagierte, gehen unter die Haut. Gleiches gilt für die Aussagen des zweifachen Weltmeisters Julian Alaphilippe (32, Fr), der meinte: «Da wird einem bewusst, dass man nichts ist auf dieser Welt – wir sind niemand, vor allem ich nicht auf einem Velo.»
Verstörende Aussagen
Alles gut also? Nein. Die Netflix-Serie wirkt mit dem Hintergrund von Mäders Tod auch verstörend. Zum Beispiel dann, als Quick-Step-Boss Patrick Lefevere (69) zu Beginn der Doku meint: «Wenn ein Fahrer eine Etappe gewinnen will, muss er jemand anderen töten.» Ebenso, wenn Super-Sprinter Jasper Philipsen (26, Be) sagt: «Unfälle passieren, du solltest dich daran gewöhnen.» Darauf hätte man verzichten können.
Zurück zur Tour de Suisse. Als ich mit Silvan Dillier (33) sprach, sagte er einen Satz, der mir geblieben ist: «Weisst du, Gino ist immer noch ein Teil von mir.» Ein schöner Gedanke. Anderseits eröffnete mir Bissegger: «Ich denke an die schönen Momente mit Gino zurück. Aber ganz ehrlich, meistens werde ich dennoch traurig, wenn ich an ihn denke.»
Letztlich ist es wohl so, wie es mir Vater Andreas Mäder formulierte, als wir gemeinsam die Unfallstelle am Albula besuchten: «Gino stirbt erst, wenn wir ihn vergessen.» Das ist nicht passiert. Und wird auch nicht geschehen – zumindest nicht bei jenen, die ihn kannten.