Es ist nicht anzunehmen, dass Jonas Vingegaard (26, Dä) und Primoz Roglic (31, Slo) jemals gejasst haben. Und doch spielten sie letzten Mittwoch «Tschau Sepp». Beim mörderischen Schlussaufstieg zum Alto de l’Angliru fuhren sie Vuelta-Leader Sepp Kuss (29, USA) zu zweit davon.
«Ist doch toll», sagte wohl manch einer, der den Radsport nicht näher verfolgt. Das Problem an der Sache: Vingegaard, Roglic und Kuss sind alle beim holländischen Team Jumbo-Visma angestellt. Und wenn im Radsport ein ungeschriebenes Gesetz Gültigkeit hat, dann jenes, dass man seine Teamkollegen nicht angreifen sollte.
Roglic tat es dennoch, weil er seinen vierten Vuelta-Gesamtsieg wollte, womit er zu Rekordhalter Roberto Heras (49, Sp) aufgeschlossen hätte. Tour-Sieger Vingegaard strebte dagegen das Grand-Tour-Double an. Tatsächlich fuhren beide gemeinsam über die Ziellinie, ahnten aber wohl bereits Böses. Denn erstens brach Kuss, der den beiden jahrelang als Edelhelfer treu zur Seite stand, nicht völlig ein. Und zweitens dürften sie gewusst haben, dass es Kritik hageln würde. Genau so kam es.
Am Geburtstag im Stich gelassen
«Sepp hat mehr Respekt verdient», nervte sich Geraint Thomas (37), britischer Tour-Sieger von 2018. Ex-Champion Sean Kelly (60) meinte, das Ganze sei einfach nur unfair. Dass Kuss an jenem Tag seinen 29. Geburtstag feierte, wurde als der Gipfel der Unverfrorenheit interpretiert.
Die Verantwortlichen von Jumbo-Visma merkten, dass sie gerade dabei waren, viele Sympathien zu verspielen und verkündeten, man werde nun für Kuss fahren – schliesslich waren die ersten drei Plätze für das Team im Gesamtklassement so gut wie zementiert. Vingegaard und Roglic hielten sich fortan daran, wobei vor allem der Slowene alles andere als glücklich schien.
Rückt Kuss wieder ins zweite Glied?
Kuss' Erfolg ist die grösste Grand-Tour-Überraschung der letzten Jahre. «Ich hätte nie gedacht, dass so etwas möglich ist. Ich kann das alles noch nicht glauben», meint er. Für das Image des Radsports in den USA ist der Sieg des in Andorra lebenden Bergfahrers Gold wert. Schliesslich wurden sowohl Lance Armstrongs sieben Tour-Triumphe zwischen 1999 und 2005 als auch Floyd Landis’ Sieg bei der Grande Boucle 2006 aberkannt. Und auch Tyler Hamiltons Olympiasieg 2006 ist aus den Geschichtsbüchern entfernt worden. Seither lechzt man nach Heldentaten.
Da kommt die Kuss-Gechichte gelegen. Dass er davon profitierte, in der ersten Vuelta-Woche mit einer Ausreissergruppe viel Zeit auf die Top-Favoriten herausgeholt zu haben, kann ihm egal sein.
Die spannende Frage wird sein, welche Ambitionen Kuss für die Zukunft hat. Er liebte die Rolle als Helfer, hat nun aber gesehen, dass er zu Grossem fähig ist. Sicher ist: Jumbo-Visma wird die Arbeit auch künftig nicht ausgehen.