Kurz nach dem Beginn der Vuelta wurde Egan Bernal (26) gefragt: Streben Sie einen Etappensieg an? «Nein», antwortete der Kolumbianer, «ich helfe lieber meinen Teamkollegen». Wie bitte? Immerhin ist er einer der grössten Rad-Stars überhaupt. Oder besser: Er war es. Bernal brach früh Rekorde, er gewann 2019 die Tour de Suisse und kurz darauf die Tour de France – als erster Südamerikaner und jüngster Fahrer der Geschichte.
«Er wird den Radsport über viele Jahre dominieren», waren sich Experten sicher. Sie sollten sich täuschen. Der Rad-Engel aus den Anden fiel tief. So tief, dass es kaum vorstellbar ist, dass er jemals wieder an alte Leistungen anknüpft.
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Mit 60 km/h in einen Bus gedonnert
Es grenzt schon an ein Wunder, dass Bernal überhaupt noch Rad fahren kann. «Ich war drauf und dran, zu sterben», so der Profi vom Team Ineos. Doch der Reihe nach. Bernal litt nach seinem Tour-Coup unter grossen Rückenproblemen, weil eines seiner Beine länger ist als das andere. Eine Operation war nicht möglich. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als das Problem mit Physiotherapie in den Griff zu kriegen. Die Behandlung zeigte Erfolg, Bernal gewann 2021 den Giro d'Italia. Doch dann kam der 24. Januar 2022.
An jenem Tag ist Bernal in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá auf einer Trainingsfahrt, als plötzlich vor ihm ein Bus hält, um Passagiere aussteigen zu lassen. Bernal kann nicht mehr ausweichen, er bremst nicht einmal mehr, sondern rast mit 60 km/h ins Heck des Fahrzeugs. 20 Knochen in seinem Körper brechen, darunter zwei Wirbel, elf Rippen, ein Oberschenkel und eine Kniescheibe. Beide Lungenflügel werden durchlöchert.
«Jeder Atemzug schmerzte»
In den ersten 12 Stunden nach dem Crash wird Bernal dreimal operiert. Drei Tage lang liegt der Super-Bergfahrer im künstlichen Koma, das Schlimmste wird befürchtet. Doch Bernal überlebt. «Als ich am Beatmungsgerät angeschlossen war, schmerzte jeder Atemzug. Aber ich konnte immerhin etwas spüren. Ich hätte nichts fühlen und tot sein können», so Bernal auf Eurosport.
Gustavo Ariza, der Bernal behandelte, spricht gegenüber «El Tiempo» von einem Wunder, dass Bernal lebend davongekommen sei. «Im Normalfall wäre er gestorben oder zu 95 Prozent querschnittgelähmt gewesen.»
Prioritäten haben sich verschoben
Irgendwann ist Bernal über den Berg – nicht auf dem Rad wie früher, sondern bildlich gesprochen. An ein Comeback ist erst einmal nicht zu denken. Laufen, Essen, Zähneputzen – er muss alles neu lernen. Später kehrt Bernal aufs Velo zurück, sieben Monate nach dem Crash bestreitet er im August 2022 die Dänemark-Rundfahrt.
Auch bei der Vuelta sind alle glücklich, dass Bernal zurück im Peloton ist. Doch genau dieses bedeutet ihm nicht mehr so viel wie früher. «Es gibt ein Leben jenseits des Radsports», sagt er. Und ergänzt: «Ich habe eine Familie, meinen Hund. Der wartet glücklich auf mich daheim. Ihm ist es egal, ob ich gewinne.»
Wie viele sportliche Schlagzeilen Bernal noch schreiben wird, ist offen. Sein wichtigstes Rennen hat er bereits gewonnen.