Mathias Flückiger (36) nennt diesen ominösen 18. August 2022 den schlimmsten Tag seines Lebens. Der Tag der Katastrophe: Flückiger ist in München, wo tags darauf die Mountainbike-EM stattfinden wird. Ohne ihn. Es ist der Tag, an dem dem Berner eröffnet wird, dass ein Dopingverfahren gegen ihn laufe und er provisorisch gesperrt werde.
Mittlerweile ist Flückiger frei von allen Anschuldigungen. Längst ist klar: An diesem 18. August 2022 und in den Wochen zuvor ist vieles schiefgelaufen. Es beginnt mit den Dopingjägern von Swiss Sports Integrity (SSI), die eine positive Dopingprobe kommunizieren statt, wegen der Kleinstmenge von Zeranol, einen atypischen Befund, was bei der Handhabung des Falls einen riesigen Unterschied macht. Es geht weiter mit Verband Swiss Cycling, der die falschen SSI-Infos öffentlich macht.
Was an diesem August-Donnerstag aber in München hinter den Kulissen ablief, ist nicht bekannt. Bis jetzt. Mit Bruno Diethelm (65) schildert bei Blick die Person, die Flückiger an diesem Tag am nächsten war, das Drama aus seiner persönlichen Sicht.
Am 5. Juni 2022 nach der SM in Leysin VD werden bei Mathias Flückiger in einer Dopingprobe 0,3 Nanogramm pro Milliliter der anabolen Substanz Zeranol nachgewiesen. Weil der Befund aber unter dem festgelegten Schwellenwert von 5,0 Nanogramm pro Milliliter liegt, gilt er zunächst nicht automatisch als positiv. Er wird als sogenannt atypisch gewertet, woraufhin Swiss Sport Integrity (SSI, vormals Antidoping Schweiz) weitere Abklärungen veranlasste.
Am 18. August zieht SSI Flückiger dann aber als provisorisch gesperrt aus dem Verkehr. Es ist nun fälschlicherweise von einer positiven Probe die Rede. Vier Monate später hebt die Disziplinarkammer (DK) von Swiss Olympic die Sperre wieder auf – sie folgt damit der Darstellung der Flückiger-Seite. Diese wirft SSI Verfahrensfehler vor. Ein atypischer Befund wird nicht öffentlich gemacht. Und die Beweislast liegt nicht beim Athlet, sondern bei SSI.
Der Fall bleibt über Monate hängig, die Anwälte haben viel zu tun. Dann spricht die DK im Mai 2024 Flückiger definitiv frei. Seine Probe gilt als nicht verwertbar. SSI und die Welt-Dopingagentur Wada verzichten auf einen Weiterzug.
Am 5. Juni 2022 nach der SM in Leysin VD werden bei Mathias Flückiger in einer Dopingprobe 0,3 Nanogramm pro Milliliter der anabolen Substanz Zeranol nachgewiesen. Weil der Befund aber unter dem festgelegten Schwellenwert von 5,0 Nanogramm pro Milliliter liegt, gilt er zunächst nicht automatisch als positiv. Er wird als sogenannt atypisch gewertet, woraufhin Swiss Sport Integrity (SSI, vormals Antidoping Schweiz) weitere Abklärungen veranlasste.
Am 18. August zieht SSI Flückiger dann aber als provisorisch gesperrt aus dem Verkehr. Es ist nun fälschlicherweise von einer positiven Probe die Rede. Vier Monate später hebt die Disziplinarkammer (DK) von Swiss Olympic die Sperre wieder auf – sie folgt damit der Darstellung der Flückiger-Seite. Diese wirft SSI Verfahrensfehler vor. Ein atypischer Befund wird nicht öffentlich gemacht. Und die Beweislast liegt nicht beim Athlet, sondern bei SSI.
Der Fall bleibt über Monate hängig, die Anwälte haben viel zu tun. Dann spricht die DK im Mai 2024 Flückiger definitiv frei. Seine Probe gilt als nicht verwertbar. SSI und die Welt-Dopingagentur Wada verzichten auf einen Weiterzug.
Diethelm ist damals seit zehn Jahren Mountainbike-Nationaltrainer der Männer. Der Thuner ist eine Schweizer Velo-Institution und war ein wichtiger Mann in einer schillernden Mountainbike-Ära mit vielen Medaillen. Doch der Gedanke an die EM-Medaillen sind an diesem Tag plötzlich ganz, ganz weit weg.
«Ja, ich bin bereit, zu reden», hat er am Telefon klargemacht. Er wolle nicht, dass sich das, was mit Flückiger passierte, jemals wiederholt. «Es wurden Fehler gemacht. Gravierende Fehler. Sie dürfen sich niemals wiederholen. Darum erzähle ich meine Sicht der Dinge», so Diethelm. Es ist ein kalter Morgen im Oktober, wir treffen uns im «Toi et Moi», einem Restaurant beim Bahnhof in Bern. Diethelm bestellt einen Ingwertee mit Zitrone. Und dann beginnt er zu erzählen. Von jenem 18. August 2022, der auch sein Leben erschüttert hat.
«An diesem Tag fand im Olympiapark die Streckenbesichtigung statt. Auf einem Parkplatz stand der gemietete Teambus. Mit Duschen, einer Küche und so weiter. Die Fahrer waren auf der Strecke und hätten dann noch Medientermine gehabt.»
Doch der TV-Auftritt von Flückiger, der wegen des EM-Verzichts von Nino Schurter der renommierteste Schweizer im achtköpfigen Aufgebot ist, wird abgesagt. Das wissen zu diesem Zeitpunkt weder der Berner noch Trainer Diethelm.
Falsche Informationen
«Es war Nachmittag, schönes Wetter. Die Fahrer, der Staff und die Mechaniker waren alle beim Bus. Math war drin, er hat sich umgezogen. Da kommt plötzlich Tom (Swiss-Cycling-Geschäftsführer Thomas Peter). Er hat uns zusammengerufen. Hinten im Bus gibt es eine Art Sofa-Lounge. Da waren dann Math, Tom, Edi Telser (Frauen-Nationaltrainer), Patrick Müller (Sportchef), Micha Jegge (Mediensprecher) und ich in diesem Raum. Die Tür wurde geschlossen. Dann hat es Tom uns allen eröffnet. Es gäbe eine positive Probe von Flückiger.»
In diesem Moment weiss niemand, dass die Information nicht stimmt. Swiss Cycling betont auf Blick-Anfrage, man habe sich an die Infos der SSI gehalten. Niemand ahnt, dass der Wert der anabolen Substanz Zeranol mit 0,3 Nanogramm pro Milliliter deutlich unter der festgelegten Schwellenwert von 5,0 Nanogramm pro Milliliter liegt und damit ein atypischer Befund ist. Und keine positive Probe. Auch was Zeranol überhaupt ist und dass es im Leistungssport so gut wie nie als Dopingmittel eingesetzt wird – nein, auch dessen ist sich niemand bewusst. Offenbar hat sich keiner darüber informiert oder Experten beigezogen. Vielmehr erklärt Peter in der Runde: Flückiger wurde positiv getestet!
«Es war auch für Tom schwierig. Auch er konnte nicht damit rechnen, dass es derart heftig wird. Es war grausam. Mitzuerleben, wie enorm hart Math diese Nachricht trifft, tut mir noch heute weh. Seine Welt ist zusammengebrochen. Er hat vor Schmerz geschrien, es war grauenvoll. Das werde ich nie mehr vergessen. Man kann mir vorwerfen, ich sei leichtgläubig. Doch ich bin überzeugt, dass man eine solche Reaktion nicht schauspielern kann. Ich habe viele Fahrer erlebt. Math schaut im Gegensatz zu sorgloseren Kollegen immer sehr genau, was er isst und trinkt.»
Alle Beruhigungsversuche schlagen fehl. Telser verlässt den Bus, dann auch Peter und alle anderen. Diethelm bleibt.
Flückiger in ärztlicher Behandlung
«Tom sagte, Math müsse ins Hotel zurück. Für mich klar, dass das nicht geht. Dann hat Tom offenbar Patrik Noack (Swiss-Cycling-Chefarzt, d. Red.) informiert. Er kam rein und hat versucht, Math zu beruhigen. Nach etwa zwei Stunden hiess es plötzlich, dass der Bus mit Math die paar Minuten zum Hotel fährt.»
Noack bestätigt seinen medizinischen Einsatz gegenüber Blick. Swiss Cycling sagt dazu, dass die bestmögliche Betreuung im Zentrum gestanden habe. Nach Telefonaten in die Schweiz wird klar, dass Flückiger möglichst schnell in die Heimat gebracht werden soll.
«Beim Hotel habe ich mit Tom gesprochen und fragte ihn, ob wir nicht kommunizieren können, dass Math die EM nicht fährt, weil er krank ist? Ich fand ganz grundsätzlich, dass es mehr Zeit braucht, um alles in Ruhe anschauen zu können. Tom entgegnete, man könne nichts vertuschen. Darum ging es mir nicht. Doch eine Nacht hätte man auf jeden Fall warten können.»
Dazu kommt es nicht. Swiss Cycling informiert intern und via Medien extern am selben Abend über Flückigers Sperre. Peter spricht danach auch in einem langen SRF-Interview von einer positiven Probe. Der Verband schildert heute, dass man keine Wahl hatte, das Gerücht um einen möglichen Schweizer Dopingfall habe sich schon zu verbreiten begonnen.
«Ein Mechaniker holte das Gepäck aus dem Zimmer. Ich blieb ständig bei Math. Ich hätte es nicht verantworten wollen, ihn aus den Augen zu lassen. Ich hatte Angst, dass er sich etwas antun könnte. Für mich war auch klar, dass er nicht in ein enges Auto umsteigen wird. Es war eine gute Entscheidung, dass einfach der Bus in die Schweiz fahren soll.»
Der Chauffeur fährt mit Flückiger und Diethelm los. Die Fahrt dauert rund sechs, mit den Stopps fast sieben Stunden bis nach Bern. Auf einer Raststätte in Deutschland spricht Ralph Näf, Teamchef von Flückigers Weltcup-Rennstall, mit seinem Topfahrer. Später, auf einer Schweizer Raststätte, kommen Freundin Lisa und Bruder Lukas dazu.
«Maths Krisen kamen in Wellen. Wenn es zwischendurch besser ging, konnten wir telefonieren. Lukas fragte Math am Telefon, bevor er zustieg, ob er wirklich nichts genommen habe. Math schmiss das Handy durch den Bus. Heute versteht er die Frage seines Bruders, aber damals war sie brutal. Wir sind nachts um 2 Uhr in Bern angekommen und konnten Math an einem sicheren Ort unterbringen.»
Mit Flückiger in der Obhut von Freundin Lisa, Bruder Lukas und medizinischer Betreuung endet Diethelms Observation seines Fahrers. Der Trainer und der Chauffeur fahren die ganze Nacht zurück nach München. Zu schaffen macht ihm der längste Arbeitstag seines Lebens aber bis heute.
Welche Fehler wurden gemacht?
«Wir alle wollen Dopingsünder überführen. Doch wir müssen die Sportler auch schützen. Dass ein Athlet praktisch gleichzeitig mit der Öffentlichkeit informiert wird, ohne dass er Stellung nehmen konnte, finde ich extrem ungerecht. Der Hauptfehler war sicher, dass es die SSI nicht als atypischen Befund behandelte. Dann hätten sie viel früher auf Math zugehen müssen, um Infos einzuholen. Doch indem sie kurz vor der EM sofort mit einer Sperre kamen, gab es extremen Zeitdruck. Dann kam dazu, dass es bei Swiss Cycling scheinbar keinerlei standardisiertes Ablaufprozedere gibt, was die interne und externe Kommunikation in einem solchen Fall angeht. Das hätte allen geholfen.»
In diesem Punkt widerspricht der Radverband auf Anfrage und teilt mit: «Der Grundablauf bei Krisenfällen ist klar definiert. Die Umsetzung insbesondere der internen Kommunikation jedoch lässt sich nicht standardisieren, sie hängt stark von den Rahmenbedingungen des jeweiligen Krisenfalls ab. In München waren diese Rahmenbedingungen extrem schwierig.» Die SSI teilt mit, dass man sich bereits zum Fall geäussert habe und nicht auf Detailfragen eingehen könne.
Diethelm arbeitet seit Dezember 2022, also wenige Monate nach München, nicht mehr für Swiss Cycling. Er ist dennoch eng am Puls der Veloszene geblieben, hat zuletzt auch zum Team um Strassentalent Jan Christen gehört.