Als Tadesse Abraham vor einer Woche in Tokio landet, ahnt er nichts Böses. Warum auch? Von seiner Corona-Erkrankung im März spürt er nichts mehr. Im Gegenteil, der beste Schweizer Marathon-Läufer aller Zeiten fühlt sich pudelwohl. Doch das ändert sich innert Sekunden! «Eine ältere Frau kam auf mich zu. Sie sagte, sie sei eine Krankenschwester und fragte mich, ob ich Fieber habe oder mich nicht wohlfühlen würde. Ich wollte wissen, warum sie mich das fragte. Sie antwortete: ‹Ihr Corona-Test ist positiv.› Ich konnte es nicht glauben.»
Für Abraham beginnt ein fast zweistündiger Alptraum. Sind seine vielleicht letzten Olympischen Spiele – er ist 39 Jahre alt – etwa schon vorbei, ehe sie begonnen haben? Er harrt fast zwei Stunden aus. «Es war ein Desaster. Ich kann gar nicht wiedergeben, was alles in meinem Kopf vorging. Ich verlor alle meine Energie und musste nur noch weinen.»
Dann folgt die riesige Erleichterung – Abraham ist negativ. Nach Platz 7 vor fünf Jahren in Rio darf er zum zweiten Mal an Olympia starten. «Die Strecke zu studieren oder die Teilnehmerliste, ist nicht mein Ding. Aber ich werde alles geben für ein gutes Ergebnis.» Aus einem guten Ergebnis aber wirds nichts: Der Schweizer muss den Olympia-Marathon nach Kilometer 25 völlig erschöpft aufgeben.
«Ich wollte Rad-Profi werden»
Während eine Medaille also ausbleibt – zu stark ist die Konkurrenz um Olympiasieger Eliud Kipchoge – ist Abraham so oder so ein Gewinner. Weshalb? Um das zu verstehen, muss man das Rad der Zeit um etwa 30 Jahre zurückdrehen. Damals lebte Tadesse auf einem Bauernhof in Eritrea, seinem Geburtsland.
«Ich habe ich davon geträumt, Rad-Profi zu werden. Aber dann bin ich gestürzt. Mir ist nichts passiert, aber das Velo war kaputt. Und weil meine Eltern nicht genug Geld hatten, um mir ein neues zu kaufen, musste ich zehn Kilometer in die Schule laufen. Damit ich nicht immer zu spät kam, begann ich, zu rennen», erzählte Abraham kürzlich in einem Interview mit seinem Sponsor Red Bull.
Abraham hilft bei der Integration
Rasch wurde klar, welch grosses Talent Abraham war. 2003 bestritt er mit der Cross-WM sein erstes internationales Rennen. Wenige Monate später flüchtete er aus Eritrea – während eines Wettkampfs in Belgien setzte er sich ab und stellte einen Asylantrag in der Schweiz. 2014 wurde er eingebürgert und lief zwei Jahre danach mit 2 Stunden, 6 Minuten und 40 Sekunden Schweizer Rekord.
Heute hilft Abraham selbst Flüchtlingen und Migranten in der Schweiz. Er sagt: «Ich bin der grosse Bruder. Ein guter Freund, mit dem man locker reden kann.»