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WM-Rede von Gianni Infantino:«Ich fühle mich wie ein Behinderter»

Langjähriger Mitarbeiter über Fifa-Boss Infantino
«Gianni ist sehr autoritär, die Leute haben Angst vor ihm»

Er hätte die Fifa in eine grosse Zukunft führen sollen. Doch jetzt gilt Verbandsboss Gianni Infantino als Bösewicht des Weltfussballs. Im Blick erklären Insider, wie der Walliser tickt.
Publiziert: 27.11.2022 um 10:06 Uhr
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Aktualisiert: 16.12.2022 um 13:39 Uhr
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Daumen hoch! Gianni Infantino hat sich mit der Wüsten-WM in Katar längst arrangiert.
Foto: IMAGO/Shutterstock

Ein Spiel dauert 90 Minuten, der Ball ist rund, und rollt er erst einmal, sind alle Nebenschauplätze vergessen. Sobald gespielt wird, sind Menschenrechtsverletzungen und Korruptionsvorwürfe weit weg. So war das bis jetzt.

Bei der Wüsten-WM in Katar geraten diese Gewissheiten gerade ins Wanken. Nicht, weil mit den neuen Nachspiel-Regelungen ein Spiel statt 90 Minuten gut und gerne eine Viertelstunde länger dauert. Das wirklich Erschütternde: Ruhe ist nicht eingekehrt, WM-Start hin oder her.

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Wie konnte das passieren? Als Gianni Infantino (52) vor sechs Jahren auf Sepp Blatter (86) folgte, schien das die Chance zu sein, die Fifa zu einem besseren Ort zu machen. Schluss mit Schmierereien, Korruption und Mauscheleien auf Spitzenebene. Ein Journalist, der damals viel mit Infantino zu tun hatte, sagt: «Er hat oft davon geredet, die Fifa von der Macht des Geldes befreien zu wollen. Und zwar so überzeugend, dass ich ihm das damals auch abgenommen habe und dachte, mit ihm werde der Ruf der Fifa besser als unter Blatter.»

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Sechs Jahre später ist Infantino die umstrittenste Figur im Weltfussball.

Erst der Brief, dann der G20-Gipfel

Menschen zu finden, die dies und das Wesen von Gianni Infantino erklären können, ist in diesen Tagen kein einfaches Unterfangen. Wer sich mit ihm verkracht hat, steht nicht gerne mit Namen hin. Und selbst die Unterstützer geben sich gerade sehr zurückhaltend.

Dabei ist der Fifa-Präsident omnipräsent, er liefert in diesen Tagen Schlagzeile um Schlagzeile: Am G20-Gipfel in Bali fordert er die versammelten Staatsoberhäupter auf, für eine Waffenruhe zwischen Russland und der Ukraine zu sorgen, während in Katar Fussball gespielt wird. Dabei hat er erst kurz vorher in einem Brief an die Nationalverbände dazu aufgerufen, sich nun doch bitte auf den Sport zu konzentrieren und keine Politik mehr zu machen. Am Vorabend der WM hält Infantino eine Pressekonferenz, die jetzt schon historisch ist. «Heute fühle ich mich katarisch, heute fühle ich mich arabisch, heute fühle ich mich afrikanisch, heute fühle ich mich homosexuell, heute fühle ich mich behindert, heute fühle ich mich als Gastarbeiter», sagt er. Ein wirrer, schräger Auftritt, er stösst damit Millionen Menschen vor den Kopf.

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Ex-Fifa-Mann Koch: «Gianni ist sehr autoritär»

Warum tut er das? Weil er es kann. Alexander Koch hat fast 17 Jahre als Sprecher bei der Fifa gearbeitet, ein Jahr davon auch unter «Gianni», wie er Infantino im Gespräch mit SonntagsBlick nennt. Koch sagt: «Gianni ist sehr autoritär, die Leute haben Angst vor ihm.» Widerrede werde nicht geduldet. Infantino habe kein Problem damit, auch hochrangige Mitarbeiter lautstark vor versammelter Mannschaft abzukanzeln, sagt ein früherer Mitarbeiter, der nicht namentlich genannt werden will: «‹Ich bezahle dich! Was tust du für mich?›, ruft er dann. Das führt zu einer ‹Spirale des Schweigens›.»

Infantino habe sich bei der Fifa von Beginn weg nur in einem sehr kleinen Kreis von Leuten bewegt, die er selbst ausgesucht habe, sagt Koch. Alles Leute, die ihm loyal ergeben seien. «Zu allen anderen pflegt er nahezu keinen Kontakt, fast niemand bekommt ihn zu Gesicht», sagt Ex-Fifa-Mann Koch. «Wenn er doch mal an Veranstaltungen auftaucht, dann geht er an allen vorbei und setzt sich direkt an einen Tisch mit seinen Leuten. Und da bleibt er.» Ein anderer sagt es martialisch: «Wer nicht für Infantino ist, ist gegen ihn.»

Der missverstandene Infantino

Menschen, die ihm wohlgesonnen sind, sehen in Infantino einen Missverstandenen. Seine Jugend in Brig VS als Sohn italienischer Gastarbeiter taucht in der Tirade von Doha ebenfalls auf. Dass er in den Siebziger-Jahren in einer Zeit aufwächst, in der in der Schweiz über die «Tschinggen» geflucht wird, prägt ihn tief. Er fühlt sich gemobbt. Sein schlechter Ruf hierzulande, davon sei Infantino überzeugt, hänge auch mit Schweizer Fremdenfeindlichkeit zusammen.

Infantinos Schwester Daniela redet nicht mehr öffentlich über ihren Bruder. In der «Rhone-Zeitung» erzählte sie einst von einem Aufsatz, den ihr Bruder in der vierten Klasse geschrieben hatte. «Ich möchte Fussballprofi werden», schrieb Gianni. «Aber da ich dafür nicht so talentiert bin, werde ich Advokat vom Fussball.»

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So kam es. Infantino wurde Anwalt. «Er war nicht der beste Jurist, aber gut in der Pflege von Beziehungen», sagte Honorarprofessor Piermarco Zen-Ruffinen, für den Infantino arbeitete, 2018 der «NZZ». «Er war schon immer schwer zu durchschauen. Wenn Sie ihn fünfmal treffen, kennen Sie ihn womöglich nicht besser.»

Positiv klingt es, wenn Ex-Nati-Star Gelson Fernandes, mittlerweile Fifa-Direktor für die afrikanischen Mitgliedsverbände, über seinen Chef spricht. «Infantino ist ein grosser Präsident», sagte er bei RTS. «Die Schweiz sollte stolz auf ihn sein.» Gegenüber SonntagsBlick wird Fernandes konkreter: «Er ist unglaublich fleissig und leidenschaftlich. Das Wichtigste ist für ihn, dass der Fussball für alle da ist. Er setzt sich dafür ein, dass in ärmeren Gebieten die Infrastruktur verbessert wird.» Die Kritik aus Europa an Infantino sei unfair. Vielleicht müsse die Fifa noch mehr kommunizieren, wie sie den Fussball in ärmeren Regionen entwickle. Fernandes weiter: «Ich rede von Fakten, weil ich vieles von dem, was Gianni macht, hautnah mitbekomme. In Afrika sind die Menschen glücklich, dass er Präsident ist.»

Und wie erlebt Fernandes Infantino als Mensch? «Offen und ehrlich. Für diese Werte steht er ein. Und er ist ein Familienmensch – privat und beruflich. Ich wünsche mir für ihn und für den Fussball, dass er vier weitere Jahre Präsident bleibt.»

Ein anderer Ex-Nationalspieler in Diensten der Fifa ist Pascal Zuberbühler (seit 2017). Was da abgehe mit «Gianni», sagt er am Telefon, sei eine Schlammschlacht: «Man sucht das Haar in der Suppe. Damit habe ich Mühe.» Er habe mehrfach Reisen an der Seite von Infantino unternehmen dürfen und habe ihn so schätzen gelernt: «Gianni hat ein riesiges Herz. Er ist offen für alles – egal welche Religion, welche sexuelle Ausrichtung, welche Hautfarbe. So erlebe ich ihn! Und: Er ist ein absoluter Fussball-Freak.» Auch er nimmt seinen obersten Chef, wie Fernandes, als akribischen Schwerarbeiter wahr. Was sagt Zuberbühler zur Aussage, dass Infantino so autoritär führe, dass alle Angst vor ihm hätten? «Schauen Sie. Man muss ein bisschen autoritär sein im Leben.»

Blatter und Infantino: Tag und Nacht

Infantinos Ziel war es, seinen Vorgänger Blatter vergessen zu machen, eine neue Linie zu fahren, die Fifa weiterzubringen. Mehrere Fifa-Leute, mit denen SonntagsBlick spricht, sprechen ihm hierfür aber eine wichtige Fähigkeit ab. «Er hat nicht die Sozialkompetenz, die sein Vorgänger hatte. Er versteht es nicht, die Leute zu motivieren und ein Team zu bilden, was kreative Prozesse innerhalb der Fifa im Keim erstickt», sagt Koch.

«Blatter und er, das ist wie Tag und Nacht», sagt einer, der unter beiden Präsidenten tätig war. «Blatter war ein Patron. Er kannte die Leute und er schätzte sie. Er hat gewisse Werte vertreten und zum Beispiel auch Leuten, die es schwieriger hatten im Leben, eine zweite Chance gegeben.» Seit Infantino die Zügel in den Händen halte, sei der Betrieb am Zürcher Sonnenberg seelenlos geworden. «Blatter ist der bessere Mensch», soll ein Fifa-Delegierter einst gesagt haben. «Aber Gianni bringt mehr Geld.»

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Geld aus Katar zum Beispiel. Früher hatte die Fifa dem Austragungsland die Bedingungen diktiert. Heute das umgekehrte Bild. Infantino kuscht mit seinem mächtigen Weltverband vor Katar: Die Fifa verbietet den Captains von sieben europäischen Nationalmannschaften, darunter auch der Schweizer Granit Xhaka (30), die farbig gestreifte «One Love»-Binde. Hatte Infantino bei seinem Amtsantritt noch durchblicken lassen, die WM-Vergabe nach Katar für falsch zu halten, hat er sich mit der Austragung im Emirat längst versöhnt. Mit seiner libanesischen Frau und den Töchtern hat er seinen Lebensmittelpunkt mittlerweile nach Doha verschoben, eine Woche im Monat soll er noch in Zürich verbringen.

Infantinos Auftritte mit Biden, Putin und Bin Salman

Diese Entscheidung, die Auftritte, das Gehabe in den letzten Tagen mögen die Weltöffentlichkeit irritiert haben. Die, die mit ihm enger zu tun hatten, sind nicht überrascht. Gerade der G20-Gipfel ist einer der Orte, an dem sich der Fifa-Boss heimisch fühlen möchte. Er sieht sich auf Augenhöhe mit all diesen Staatsoberhäuptern. Nach dem Gipfel liess der Walliser eine grosse Agentur Fotos von sich mit den Staatschefs Joe Biden, Emmanuel Macron, Justin Trudeau oder Rishi Sunak an ausgewählte Medien verschicken. Die Welt soll sehen, auf welchem diplomatischen Parkett sich der höchste Fussballer des Planeten zu bewegen versteht.

Infantinos Geltungsdrang soll ab und zu seltsame Blüten treiben. Ein Insider erzählt eine Geschichte: Wladimir Putin ist dafür bekannt, dauernd zu spät zu kommen. Auch Infantino musste immer auf ihn warten. Was der Walliser getan haben soll? Er setzte ein Zeichen. Und kam beim nächsten Mal absichtlich ebenfalls zu spät. «Er sieht sich als Staatsmann.»

Infantino und die Mächtigen: An der WM in Russland vor vier Jahren entsteht ein denkwürdiges Bild. Auf der Ehrentribüne sitzt der Fifa-Boss, flankiert von Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed Bin Salman links und Russlands Präsident Wladimir Putin rechts. Viel schlechter kann ein Schnappschuss nicht altern: Im Oktober 2018 liess Bin Salman den Journalisten Jamal Khashoggi in der saudischen Botschaft in Istanbul mutmasslich töten und zerstückeln. Im Februar 2022 startete Putin den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Bin Salman galt schon im Sommer 2018 als Vertreter eines autokratischen Regimes. Und dass Putins Russland 2014 die Krim überfallen hatte, war vor vier Jahren kein Geheimnis.

Eine WM in Saudi-Arabien statt in Südamerika?

Und so stellt sich mancher die Frage: Wem dient Infantino? Es gibt die, die sagen, dass Infantino die Realitäten im 21. Jahrhundert einfach früher erkannt habe als der Rest von Europa: Die Machtverhältnisse haben sich verschoben. Arabisches und asiatisches Geld löst westlichen Einfluss ab. Oder auf den Weltfussball heruntergebrochen: Es gab einmal die Idee, die WM 2030 in Südamerika stattfinden zu lassen. Es wäre das 100. WM-Jubiläum, 1930 ging die Premiere in Uruguay über die Bühne. Stattdessen könnte die WM in acht Jahren nach Saudi-Arabien gehen. Das neue Geld schlägt die Tradition.

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Wie aber geht das mit dem Versprechen einher, das Infantino zu Beginn seiner Zeit als Fifa-Boss abgab, als er die Fifa von der Macht des Geldes befreien wollte? Was viele ehemalige und aktuelle Verbandsmitarbeiter stört: Infantino sollte als Präsident eine strategische Führungsrolle innehaben. Einen operativen Führungsstil, wie ihn Blatter pflegte, wollte man mit der Neuorganisation des Weltverbandes verhindern. Doch Geschäftsführerin Fatma Samoura gilt seit ihrer Installation als nahezu unsichtbar, die frühere Uno-Frau ist eine schwache Figur. Was auch immer entschieden wird, geht über Infantinos Tisch. Die Fifa-Medienstelle reagierte auf eine SonntagsBlick-Anfrage zu diesem und weiteren Themen nicht.

Infantino ist mittlerweile auf Stufe Blatter

Wieder ist der Fifa-Präsident das Gesicht und das Gehirn des Weltfussballs. Wie bei Blatter. Das fällt in den Augen der Kritiker auf Infantino zurück. «Starke Leute umgeben sich mit starken Mitarbeitern. Er umgibt sich mit schwachen», sagt einer. Sie vermissen eine Strategie in seinem Tun. Infantino reisst viel an, das nicht zu Ende geführt wird.

Nächster Punkt, den die kritischen Stimmen hervorheben: Immer wieder versanden Infantinos Ideen. Die Klub WM, die WM im Zweijahresrhythmus etwa, die globale Nations League. Es gibt den Fall der «Fifa»-Computerspielreihe: Die Fifa verlangte vom Hersteller EA Sports viel mehr als die bisher jährlich bezahlten 100 bis 150 Millionen Franken. EA stieg aus, macht künftig dasselbe Spiel ohne Fifa-Branding. «Ein totaler Fail. Er hat sich da völlig verzockt», sagt einer. Infantino sieht das anders. «Das einzig richtige Spiel, jenes mit Fifa im Namen, wird das beste für die Fussballfans sein», wird er in der «Handelszeitung» zitiert. Das soll in Zukunft aus dem Hause Epic Games (unter anderem Fortnite) kommen.

Egal ob Kritiker oder Freunde, für alle ist klar: Infantino sitzt fest im Sattel. Es gibt nur zwei Dinge, die ihn aus der Bahn werfen könnten. Zum einen: wenn eines Tages die Geldquellen versiegen. Dann würden all die Nationalverbände, die am Tropf der Fifa hängen, Fragen zu stellen beginnen.

Und dann ist da noch das Strafverfahren, das in der Schweiz gegen Infantino und sechs weitere Beschuldigte läuft. Anfang 2023 sollen laut «NZZ» die Befragungen der Sonderstaatsanwälte Maurer und Weder in eine nächste Runde gehen.

Doch bis dahin gilt: Da ist ein Mann am Ruder, der Macht geniesst und sie zur Erreichung seiner Ziele einsetzt. Das mag für die Entwicklung des Weltfussballs Gefahren bergen. Er selber kann entspannt sein: Dem Fifa-Wahlsystem sei Dank darf er sich der Wiederwahl im März sicher sein. Die Meldefrist für weitere Kandidaten ist abgelaufen. Und auch wenn die Deutschen und die Dänen in diesen Tagen drohen, ihn nicht wählen zu wollen, braucht ihn das nicht zu kümmern. Wenn er 2027 abtritt, wird er das nur tun müssen, weil die Amtszeitbeschränkung greift. Infantino braucht Europa nicht mehr. Mit dem Europa-Bashing in seiner stündigen Rede hat er sich den Applaus von anderen Kontinenten geholt. Diese Stimmen sind ihm sicher. Auf Fidschi will kein Fussball-Boss über die Rechte der LGBTQ-Community diskutieren. Schwulenrechte in Katar sind in Namibia kein Thema. Dort hört man ihm zu. Dort glaubt man ihm. Dort widerspricht niemand. So mag es Gianni Infantino.

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