Alain Geiger, wie lebt es sich als Doyen der Super League?
Alain Geiger: Ich stelle fest, dass nicht mehr viele Schweizer mit 62 noch Profitrainer sind. Schweizer Ex-Fussballer gehen nach kürzester Zeit vergessen.
Das war ja bei Ihnen nicht anders. Sie mussten sich vor vier Jahren bei Ihrem Herzensklub Servette selber bewerben …
Wenn man in Vergessenheit geraten ist, muss man kreativ sein. Ich habe mir die Frage positiv beantwortet, dass noch genügend Energie in mir ist. Da habe ich mich selbst überzeugt, dass ich einer der Kandidaten sein müsste.
Gerieten Sie in Vergessenheit, weil Sie in Afrika waren? Oder Ihr Erfolg immer überschaubar geblieben war?
Die Resultate waren vielleicht nicht immer exzellent gewesen. Aber ich war auch immer dann Trainer bei einem Klub, als der in einer Krise steckte. Das war bei GC so, wo wir den Cupfinal verloren. Das war in Aarau und Neuenburg nicht anders. Als ich dann in der Schweiz keinen Job mehr fand und auch kein Angebot aus der Bundesliga oder der League 1 kam, ging ich nach Afrika. Das war ein aussergewöhnliches Abenteuer. Auch wenn ich keine Millionen verdiente …
Was hatten Sie gelernt?
Ich habe das KV gemacht. Als ich 1978 aber zu Sion wechselte und denen schrieb, ich sei Fussballprofi, sagten sie: Nein, nein. So etwas gibt es nicht! Sie müssen schreiben: kaufmännischer Angestellter!
Auch für die Nati hat man Sie übergangen. Als es um die Nachfolge von Vladimir Petkovic ging, hätte doch der Name des Mannes mit den zweitmeisten Länderspielen, der erfolgreich als Trainer von einem der besten Teams des Landes arbeitet, zwingend ein Thema sein müssen.
Offenbar war es das nicht. Für mich auch nicht.
Enttäuscht Sie das?
Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Vielleicht war meine Periode als Trainer in der Deutschschweiz zu wenig nachhaltig. Ich werde wohl immer einer sein, der dann in Betracht kommt, wenn man niemand anderes findet.
Das war doch im Fall Murat Yakin nicht viel anders.
Okay, zuletzt hat er in Schaffhausen gearbeitet. Aber er war in Moskau, in grossen Schweizer Klubs wie dem FCB. Dann ist er zehn Jahre jünger und spricht viel besser Deutsch als ich. Deutsch ist für einen Nati-Coach unabdingbar.
Nun sieht man unter Yakin die beste Nati aller Zeiten. Wäre das ohne die Pioniere von 1994 möglich gewesen?
Wir haben schon sehr Aussergewöhnliches erreicht, indem wir 28 Jahre vergessen gemacht haben. Diese Zeitspanne seit 1966, als die Schweiz letztmals an einer Endrunde war. Seither qualifiziert sich die Nati regelmässig. Wir dürfen sehr stolz darauf sein, die Schweiz wieder auf die Endrunden-Landkarte gebracht zu haben. Unter Petkovic ist nun eine nächste Stufe erklommen worden. Und Yakin hat Petkovic sogar in Rekordzeit vergessen gemacht. Petko ging, weil er dachte, er habe das Maximum erreicht. Yakin hat das Maximum hinaufgeschraubt. Das ist fantastisch.
Was fällt auf, wenn man das Team von 94 mit dem aktuellen vergleicht?
Damals spielten doppelt so viele in der heimischen Liga wie im Ausland. Heute ist jeder schon seit ein paar Jahren in einer grossen Liga tätig. Und Chappi spielte bei Dortmund, einem der damals weltbesten Teams. Das flösste allen unglaublichen Respekt ein. Heute haben wir mehrere, die in Grossklubs spielen. Die Schweiz gehört seit Jahren zu den besten zwölf Nationen der Welt.
Und die Protagonisten Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri, die eben erst die Hundertermarke erreicht haben, werden Sie vom Rekordnationalspieler-Podest stossen.
Klar. Die holen mich bald ein. Und auch Rekordmann Heinz Hermann, der mit 118 noch sechs Länderspiele mehr hat als ich.
Was haben Sie für Erinnerungen an die WM 1994?
Wir waren sauer auf Trainer Roy Hodgson, weil der immer golfen ging, während wir wegen der Hitze – in Detroit wars damals 42 Grad heiss – in unseren klimatisierten Zimmern bleiben mussten. Aber das ist das gute Recht des Trainers. Wenn ihm Golfen oder Kartenspiel guttut – bitte.
Welche Freiheiten nehmen Sie sich als Trainer heraus?
Keine. Ich lebe den ganzen Tag für den Fussball. Ich schaue oft fünf bis sechs Spiele am Tag.
Fünf bis sechs?
Es hat ja jeden Tag Live-Fussball. Das geht schon.
Was sagt da Ihre Frau?
Ich habe das Glück, dass meine Frau extrem verständnisvoll ist. Wir Fussballer haben ja keine Wochenenden. Und auch die Kinder kamen zu kurz, weil ich nie mit ihnen Sommerferien machen konnte. Aber wir erhalten für all diese Entbehrungen mehr Lohn.
Fussball-Journalisten haben auch selten Wochenenden. Und doch unterscheidet sie etwas von Ihnen.
Sie erhalten weniger Lohn …
Absolut!
Pech für Sie (lacht laut) … Aber in der Schweiz verdient man ja keine Millionen. Der mittlere Super-League-Lohn liegt bei 13'600 Franken. Da haben wir uns seit den Achtziger-Jahren nicht extrem entwickelt. Was hingegen im Ausland abgeht, ist exzessiv.
Exzessiv war es einst auch in Genf, einfach für Schweizer Verhältnisse. Wie ist der einstige Chaosklub Servette mit zwei Konkursen zu einem Vorzeigemodell geworden?
Die Schweiz ist ein Modellfall für Stabilität. Servette war es nicht. Seit vier Jahren sind nun dieselben Leute am Ruder – viele aus Genf –, was zu Stabilität führt. Auch, weil wir immer wachsam waren, denn bei einer Meisterschaft mit zehn Mannschaften muss man immer schön seine Punkte machen, sonst ist man schnell zweitklassig.
Servette war über Jahrzehnte hinweg eine Lachnummer in Genf.
Absolut! Heute aber vermitteln wir Vertrauen. Servette wird völlig anders wahrgenommen.
Können Sie diese Renaissance an einer Person aufhängen?
Didier Fischer. Er hat die Vision gehabt, Fussball, Eishockey und Rugby unter ein Dach zu stellen, und er hatte die nötigen Kontakte, um diese Vision Realität werden zu lassen.
Nun ist er Winzer …
Als Agronom war es immer sein Wunsch gewesen, eines Tages ein Weingut zu übernehmen.
Es ist Les Trois Etoiles. Was sagen Sie als Walliser über Fischers Weine?
Sie sind stark! Die Region Genf hat aber insgesamt ungemein aufgeholt. Hier werden mittlerweile aussergewöhnliche Weine gemacht. Früher dachten die Walliser, nur sie könnten gute Weine machen. Das ist ein alter Hut und Didier ist einer jener Winzer, der an diesem Streben nach Qualität massgeblich beteiligt ist.
Wir reden über Wein und Fussball. Und im EM-Land von 2012 sterben Tausende Menschen. Was geht Ihnen da durch den Kopf?
Zuerst die Pandemie, die viel Leid verursachte. Nun sehen wir Licht. Jetzt diese verstörenden Bilder aus der Ukraine. Wenn man sieht, wie Menschen gejagt und getötet werden und wir Fussball spielen, so ist das irgendwie irreal. Da läuft doch was schief. Als das Virus erst in Asien war, lachten wir über die Menschen mit den Masken. Nun stelle ich mir die Frage: Was ist in sechs, sieben Monaten? Ist der Krieg dann auch bei uns? Ich kann mit der Situation wohl umgehen. Aber sie verstört mich und sie verursacht Zusatz-Stress.
Und der Fussball gaukelt Normalität vor.
Wir spielen Fussball, weil wir Krieg nicht wollen. Und doch fühlt man sich dabei ganz im Innersten unbehaglich. Ich bin einer, der Krieg verabscheut.
Sprechen Sie das Thema mit den Spielern an?
Weniger als das Pandemie-Thema. Aber wenn sich der Krieg hinzieht, ändert sich das vielleicht.