England leidet seit 58 Jahren
«Sie denken, es ist alles vorbei …»

Was wären die Engländer ohne ihren Humor? Auf dem Weg in den EM-Final wurde dieser einer harten Prüfung unterzogen. Und die Menschen auf der Insel haben diese bestanden.
Publiziert: 13.07.2024 um 14:02 Uhr
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Aktualisiert: 13.07.2024 um 21:12 Uhr
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Die letzte Sternstunde des englischen Männer-Nationalteams: Captain Bobby Moore 1966 mit dem WM-Pokal.
Foto: Keystone
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Stephan RothStv. Eishockey-Chef

Mit einer Ruhe, die heute unvorstellbar wäre, spricht BBC-Kommentator Kenneth Wolstenholme (1920–2002) die Worte, die wohl jeder Engländer schon einmal gehört hat. «Einige Leute sind auf dem Platz. Sie denken, es ist alles vorbei – und jetzt ist es das», sagt er, als Geoff Hurst in der Schlussminute der Verlängerung gegen Deutschland das 4:2 für England erzielt. Am 30. Juli 1966 war das. Seither hat England bei den Männern nichts mehr gewonnen.

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Doch jetzt könnte der Traum vom ersten Titel nach 58 erfolglosen Jahren für die Engländer doch noch wahr werden. Auch wenn Spanien bisher weit mehr überzeugt hat und morgen Abend als klarer Favorit in den Final von Berlin steigt.

Ohne die Fähigkeit, sich selbst auf die Schippe zu nehmen, hätten die englischen Fussball-Fans die ersten vier Spiele an dieser Euro wohl nicht überstanden. Nach ansprechendem Beginn im Startspiel gegen Serbien (1:0) liess das Team, das als einer der Topfavoriten ins Turnier gestartet war, schnell nach und verpestete das Klima mit uninspiriertem Sicherheitsfussball. Die Partien gegen Dänemark (1:1) und Slowenien (0:0) brachten England zwar den Gruppensieg, quälten aber die Zuschauer und provozierten Kritik.

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So bediente sich BBC-Starmoderator und Ex-Nationalstürmer Gary Lineker der Fäkalsprache, als er den Auftritt des Teams im Podcast «The Rest Is Football» mit seinen Kollegen Alan Shearer und Micah Richards bewertete. Dies hatte eine Replik von Captain Harry Kane zur Folge. «Es wäre besser gewesen, den Jungs Selbstvertrauen zu geben», klagte der Bayern-Stürmer, der mit drei Treffern zwar zu den besten Torschützen des Turniers zählt, aber einen äusserst behäbigen Eindruck hinterlässt. «Sie wissen, wie hart es ist. Ich würde nie respektlos gegenüber einem ehemaligen Spieler sein. Sie sollten sich einfach daran erinnern, wie es war, das Trikot zu tragen, und dass ihre Aussagen gehört werden.»

«Never in Doubt», nie im Zweifel, ist das sarkastische Motto

«Sufferball», wie der unattraktive Spielstil von Trainer Gareth Southgate nach dem Vorbild von Frankreich unter Didier Deschamps inzwischen genannt wird, bei dem das Resultat die Mittel heiligt, erreichte seinen Höhepunkt im Achtelfinal. Gegen die Slowakei liessen die Three Lions ihre Fans so sehr leiden, dass einige bereits das Stadion verlassen hatten, als Real-Star Jude Bellingham mit einem Fallrückzieher das Ausscheiden in letzter Minute noch verhinderte. Zu Beginn der Verlängerung gelang Kane dann der Siegtreffer.

«Never in Doubt», nie im Zweifel, war danach das Motto, das bei den Fans die Runden machte. Natürlich war das Sarkasmus pur.

Vielleicht haben die Briten in den letzten Jahren gelernt, Ungemach mit Humor zu verarbeiten. Schliesslich steckt das Land in einer tiefen Krise. Vieles funktioniert nicht. Das Gesundheitswesen liegt darnieder. Immer grössere Teile der Bevölkerung können die steigenden Lebenskosten nicht mehr bewältigen. Die Kinderarmut hat zugenommen, immer mehr Menschen sind auf Essensausgaben angewiesen. Die Wirtschaft darbt.

Brexit und Polit-Skandale: England in der Krise

Dazu ist das Land seit dem Brexit-Referendum 2016, bei dem 51,89 Prozent für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU stimmten, gespalten. Seither haben mit Theresa May, Boris Johnson, Liz Truss, die sich nur 45 Tage im Amt hielt, und zuletzt Rishi Sunak vier Tory-Premierminister für ein tiefes Misstrauen in die Politik gesorgt. So feierten Mitglieder der Regierung und der konservativen Partei zu Zeiten der Pandemie Partys, während die Bevölkerung den Lockdown befolgte und sich viele nicht von ihren sterbenden Angehörigen verabschieden konnten.

Letzte Woche bekam die Regierung dann die Quittung bei den Parlamentswahlen und wurde aus dem Amt gefegt. Darauf sagte der neue Premierminister Sir Keir Starmer von der Labour-Partie noch in der Wahlnacht, dass man nun Geduld haben müsse.

Geduld brauchen auch die englischen Fussball-Fans. Seit dem WM-Titel 1966 im eigenen Land mit dem legendären «Wembley-Tor» im Final gegen Deutschland, bei dem der Ball nach heutigen Wissensstand die Torlinie nicht überquert hatte, scheint ein Fluch auf der englischen Mannschaft zu liegen.

Titel gewannen seither nur die anderen. Die Engländer ihrerseits fanden derweil immer wieder neue Wege des Scheiterns. Der Anspruch des Mutterlands des Fussballs, zu den Grossen zu zählen, blieb, und die Sehnsucht nach einer zweiten Sternstunde wurde immer grösser.

Engländer regenerieren und scherzen nach Finaleinzug
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Noch herrscht lockere Stimmung:Engländer regenerieren und scherzen nach Finaleinzug

Nicht zuletzt, weil die Premier League mit ihrem rasanten, spektakulären Fussball das Mass aller Dinge ist. Auch ausländische Trainer und Spieler haben die Seele des englischen Fussballs nie verändert. Die Liga zieht die Blicke der ganzen Welt auf sich, setzt Milliarden um und hat auch immer mehr eigene Stars produziert, die nicht nur grätschen und kämpfen können, sondern Fussball mit Klasse und Raffinesse zelebrieren.

Die Basis zu ihrer Karriere legten viele Talente in den vielen Stunden, die sie in den Fussballkäfigen in den Hinterhöfen der Grossstädte verbrachten, wo der Ball auf engsten Raum behauptet werden muss. Geschliffen wurden sie dann meist in den Fussballakademien der Grossklubs.

Nachdem England bei den letzten grossen Turnieren (WM-Halbfinal 2018, EM-Final 2021 und WM-Viertelfinal 2022) unter Southgate dem grossen Ziel nahekam, war die Erwartungshaltung vor dieser Euro kaum mehr zu überbieten. Schliesslich hat man den Bundesliga-Torschützenkönig (Kane) sowie den Spieler des Jahres von La Liga (Bellingham) und Premier League (Phil Foden) in den Reihen. Und dazu so viele Offensiv-Tenöre in der Hinterhand, dass Southgate Stars wie Jack Grealish, Marcus Rashford oder James Maddison daheim lassen musste.

Kritik und Hohn für Southgate

Entsprechend gepfeffert fiel dann die Kritik aus, als der Titel-Traum zu platzen drohte, weil der zaghafte Southgate es nicht auf die Reihe brachte und mit Spielen zum Gähnen die englische Fussball-DNA verriet. Der Nationalcoach wurde beschimpft, mit Plastikbierbechern beworfen und auf Social Media verspottet. So wurden Karikaturen und Fotomontagen verbreitet, die Southgate mit Schwimmweste in der Badewanne zeigten.

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Und in einem Sketch verkörperte ihn ein Comedian beim erfolglosen Versuch, Captain Kane davon zu überzeugen, sich auf die Ersatzbank zu setzen.

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Doch der Wind drehte, als England den Einzug in den Halbfinal schaffte. Nachdem alle fünf englischen Schützen im Penaltyschiessen getroffen hatten, während der Schweizer Manuel Akanji an Goalie Jordan Pickford gescheitert war, lag man sich in den Armen. «Never in Doubt», hiess es nach der Nervenprobe vom Penaltypunkt, die den Engländern in der Vergangenheit immer wieder zum Verhängnis geworden war.

Jetzt lobten Lineker & Co. plötzlich das Team und Southgate, der auf eine 3er-Kette umgestellt hatte, über den Klee. Vom grandiosen Fussball, den man sich vor dem Turnier von diesem Kader mit einem Marktwert von rund eineinhalb Milliarden Franken erhofft hatte, war freilich auch gegen die Nati immer noch nichts zu sehen. Doch mit ihren Leistungen in Deutschland hatten die Three Lions die Messlatte tiefer gelegt.

Wie schon gegen die Slowakei rettete die individuelle Klasse eines ihrer Stars die Engländer gegen die Schweiz. Diesmal war es Arsenal-Flügel Bukayo Saka. Er erzielte das 1:1 und vertrieb im Penaltyschiessen die bösen Geister der Vergangenheit. Vor drei Jahren war er im EM-Final gegen Italien als 19-Jähriger noch vom Punkt gescheitert und darauf rassistisch beschimpft worden. Jetzt konnte er aufatmen und strahlen. Und mit ihm eine gebeutelte Nation.

Fast immer dramatisch gescheitert

Southgate dozierte derweil, dass es nicht nur darum gehe, gut zu spielen, wenn man ein Turnier gewinnen wolle. «Man muss andere Qualitäten zeigen, um zu gewinnen. Und die haben wir heute alle gezeigt.»

Spätestens seit dem Halbfinal-Sieg gegen Holland vom Mittwoch, als die Engländer eine Halbzeit lang dynamischen, zupackenden Fussball zeigten, dann wieder nachliessen, ehe sie Joker Ollie Watkins in der Nachspielzeit in den Final schoss, ist der Fatalismus der Euphorie gewichen. Im TV-Studio des übertragenden Senders ITV rannten die Experten und Ex-Spieler Gary Neville und Ian Wright jubelnd herum, während ihr grimmiger Kollege Roy Keane nicht mit der Wimper zuckte. Der ehemalige ManUnited-Captain ist Ire und kann mit der Hysterie um die englische Nationalmannschaft wenig anfangen.

In den 58 Jahren seit dem «Wembley-Tor» scheiterten die Engländer nicht selten höchst dramatisch. Da waren der WM-Viertelfinal 1970, als man eine 2:0-Führung gegen Deutschland preisgab, Diego Armando Maradonas «Hand Gottes» 1986, die Platzverweise von Alan Mullery (1968 gegen Jugoslawien), David Beckham (1998 gegen Argentinien) und Wayne Rooney (2006 gegen Portugal), der Flop von Keeper David Seaman bei Ronaldinhos Freistoss 2002, das übersehene Tor von Frank Lampard (2010 gegen Deutschland) oder Harry Kanes verschossener Penalty vor eineinhalb Jahren im WM-Viertelfinal gegen Frankreich. Und sechsmal endete ein grosses Turnier im Penaltyschiessen. Im Halbfinal 1996 bei der Heim-EM gegen Deutschland war es Southgate gewesen, der als Einziger im Penaltyschiessen die Nerven nicht im Griff hatte.

An Dramatik fehlt es auch jetzt nicht. In diesem Turnier rollt der Ball allerdings in den entscheidenden Momenten für die Engländer. Wenn es im Fussball wirklich so etwas wie Glück gibt, haben die Three Lions schon jede Menge davon in Anspruch nehmen können. Dies und den Sieg im Penaltyschiessen gegen die Nati deuten manche als Zeichen, dass das Leiden ein Ende haben könnte.

Warum nicht schon früher so?

Natürlich fragten sich nach dem Holland-Spiel auch viele: Warum nicht schon früher so? Wo war dieser Esprit und Angriffsgeist, der das Markenzeichen der Premier League ist, in den Spielen zuvor gewesen? Und da richten sich die Blicke unweigerlich wieder auf Southgate. Der einstige Verteidiger hatte die Zeiten, als England mit wehenden Fahnen und taktischer Naivität unterging, als Spieler erlebt und sich nun dem Resultat-Fussball verschrieben. Und ist bei aller Kritik stabil und unaufgeregt geblieben.

Dass alles nicht spurlos an ihm vorbeiging, zeigte Southgate nach dem Finaleinzug. «Wir wollen geliebt werden, stimmts?», sagte er mit wässrigen Augen. «Wenn du etwas für dein Land tust und ein stolzer Engländer bist und alles, was du liest, ist Kritik, ist das hart.»

An Liebe wird es ihm nicht fehlen, sollte sein Team heute Abend den ersehnten Titel nach Hause bringen. Dann wäre es wie vor einigen Jahren, als er noch mit dem aufgefrischten Song der ehemaligen Girlband Atomic Kitten «Southgate, You’re the One» gefeiert worden war. An der EM in Deutschland kam bisher erst ein deutscher Polizist, der Southgate gleicht, in den Genuss solcher Fan-Gesänge.

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Die Erinnerungen ans letzte EM-Endspiel vor drei Jahren sind aber noch frisch. Damals hatten die Feierlichkeiten in London schon am Morgen des Spiels mit rauen Mengen von Alkohol und Drogen begonnen und gerieten völlig aus dem Ruder. 6000 Fans stürmten das Stadion und sorgten für ein Riesenchaos, wie der Netflixfilm «Angriff auf Wembley» dokumentiert. Am Schluss war es nichts mit «Football's Coming Home», sondern die Italiener feierten nach dem Sieg im Penaltyschiessen hämisch mit «It's Coming Rome».

Schreibt England morgen ein weiteres Kapitel in der Geschichte des Leidens oder haben die Engländer endlich wieder einmal Grund zum Feiern? Legende Sir Geoff Hurst (82), der letzte lebende Weltmeister von 1966 und Schütze des «Wembley-Tors», richtete sich in einem Werbespott an König Charles III.: «Eure Majestät, können Sie bitte der Nation einen Feiertag gewähren, wenn England den Titel wieder nach Hause bringt?»

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