Gastbeitrag zur Zusammensetzung des Bundesrats
Braucht die Formel einen neuen objektiven Zauber?

Die Schweizer Parteien sind sich einig, dass die massgeblichen politischen Kräfte im Bundesrat vertreten sein sollen. Doch was bedeutet massgeblich? Eine klare Proporzregel wäre im Interesse des Landes, schreibt der Politikwissenschaftler Michael Strebel.
Publiziert: 30.10.2022 um 08:15 Uhr
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Aktualisiert: 30.10.2022 um 08:24 Uhr
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Welche Parteien sollen im Bundesrat vertreten sein? Um die Regierungssitze wird in der Schweiz permanent gefeilscht.
Foto: keystone-sda.ch
*Michael Strebel

52 Tage oder 1248 Stunden liegen zwischen den ziemlich genau in einem Jahr stattfindenden Parlamentswahlen und den Bundesratswahlen. Seit 1959 werden die Sitze auf die vier wählerstärksten Parteien aufgeteilt, gemäss der sogenannten Zauberformel. Anpassungen in diesem freiwilligen Modell fanden nur im Sinne von Verschiebungen innerhalb dieser vier Parteien statt. Eine Regierungsform, die Stabilität, Verlässlichkeit und Kontinuität bot.

Doch was, wenn mehrere Parteien sich einander im Wähleranteil immer stärker annähern und zusätzliche Parteien aufgrund der Verschiebungen im Parteigefüge Anspruch auf einen Bundesratssitz nach Parlamentswahlen erheben?

Im Jahr 2020 stiess die CVP (Die Mitte) einen Konkordanzgipfel an. Die Vorstellungen der Parteien konnten allerdings nicht unter einen Hut gebracht werden. Gewiss besteht der Konsens, wonach die massgeblichen Parteien im Bundesrat vertreten sein sollen. Doch was bedeutet massgeblich? Letztlich bleibt das eine Frage der politischen Interpretation.

Vorbild Oberösterreich

Veränderungen am bestehenden Modell der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrats, um weitere politische Kräfte in die Regierung einzubinden, fanden bis dato keine Mehrheit: weder eine Erhöhung der Anzahl noch eine Volkswahl der Bundesräte. Die Zauberformel bleibt uns folglich erhalten.

52 Tage oder 1248 Stunden – reicht die Zeit, um zu klären, wie die Zusammensetzung des Bundesrats sein soll? Eine objektivierte, festgehaltene «Zauberformel» könnte angezeigt sein. Solche Modelle gibt es. In unserem Nachbarland Österreich etwa, im Bundesland Oberösterreich, wird neben dem Regierungschef (wie in der Schweiz ein Primus inter Pares) die achtköpfige Regierung durch einen Proporz zusammengesetzt (für mathematisch begeisterte Leser: Es wird nach dem D'Hondt-Verfahren berechnet, eines von mehreren möglichen zur Berechnung des Proporzes). Ab einer gewissen Sitzzahl im Parlament erhält die Partei mindestens einen Regierungssitz. Wie in der Schweiz ist das Motiv, die Regierung aus den massgeblichen im Parlament vertretenen Parteien zu bilden. Diskussionen infolge der Parlamentswahlen über die parteipolitische Zusammensetzung der Exekutive erübrigen sich aber.

Auch ein Modell für die Schweiz?

Ein Gegenargument wird sein, die Zusammensetzung des Bundesrats sei keine rein mathematische Angelegenheit, sondern Faktoren wie der Wille zur Zusammenarbeit sollten zählen, ein gewisser Stil des Politisierens, Konsensfähigkeit usw. Werte, die mit einem festen Proporz gewiss weiterhin bestünden – sind sie doch in erster Linie von der gewählten Person abhängig.

Ein weiterer Einspruch: Parteien müssten ihren Erfolg mindestens in der darauffolgenden Wahl bestätigen, erst dann könne man überhaupt darüber nachdenken, ob ein Anspruch auf einen Bundesratssitz (in der Zukunft) bestünde. Zumal die Nichtwiederwahl eines bisherigen Bundesrats nicht opportun sei und die personelle Kontinuität einer Regierung ein Qualitätsmerkmal. Doch: Ein fester Proporz bewirkt gerade, dass die Parteien erst ab einer gewissen Schwelle in der Exekutive wären. Die Wählerbewegungen müssten eine tektonische Verschiebung mit sich bringen, damit es zu einer anderen Regierung kommen könnte. Die parteipolitische und personelle Kontinuität bliebe bestehen, wie auch die wichtige Wahlfunktion des Parlaments. Denn: Auch mit einem festen Proporz darf es keinen personellen Wahlzwang geben.

Fester Proporz wäre entlastend

Eine klare, verbindliche Regelung kann entlastend wirken. Denn kaum wird eine Wahlumfrage publiziert, folgt die Debatte, ob diese oder jene Partei auf Kosten einer anderen einen Bundesratssitz beanspruche. Oder ob dieses oder jenes politische Lager unter sich die Sitze aufzuteilen habe. Wie auf einem Basar wird hüben wie drüben mit Argumenten gefeilscht. Zutreffende wie beispielsweise, Sitze im Ständerat zu berücksichtigen (was eine folgerichtige Konsequenz aus dem gleichberechtigten Zweikammersystem wäre). Aber auch sehr weit hergeholte. Zurück bleibt ein zwiespältiger Eindruck: Ist die eingesetzte Energie und Aufmerksamkeit für solche Diskussionen angesichts der aktuellen politischen Lage und der wahrlich nicht wenigen und vielfältigen Herausforderungen im Landesinteresse?

Parlamentswahlen sind demokratiepolitisch von grosser Wichtigkeit. In ihrer Folge wird das Ergebnis der wählerstärkeren Parteien parteipolitisch im Bundesrat abgebildet. Womit wir wieder am Anfang des Artikels angelangt sind: 52 Tage, 1248 Stunden – und dann? Mit einem Wechsel von der freiwilligen Zauberformel hin zu einem festgelegten Proporz (die Berechnungsmethode gilt es festzulegen) würde der Wunsch, die massgeblichen Parteien in den Bundesrat einzubinden, objektivierbar. Der «Zauber» der Einigkeit diesbezüglich bliebe bestehen, der Proporz wäre Ausdruck des typischen schweizerischen politischen Systems als Konsens- und Referendumsdemokratie. Der Fokus der Parlamentswahlen könnte weg von der bundesrätlichen auf die aktuellen Probleme und die parteipolitischen Antworten gerichtet werden. Aus meiner Sicht wäre dies besser für das Landesinteresse.

* Michael Strebel ist promovierter Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Parlamentarismus und politische Systeme. Unter anderem hat er Lehraufträge an der Fernuniversität Hagen sowie der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und arbeitet für verschiedene Parlamente.

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