Auf einen Blick
Bei jedem Brummen oder Geknatter, das von draussen in die Wohnung dringt, denkt Liliane Forster: «Jetzt geht es also los, jetzt geht es der Zypresse im Hof an den Kragen.»
Stellt sich dann heraus, dass der Lärm von einem Laubbläser stammt und nicht von einer Motorsäge, atmet die Rentnerin durch – aber nur kurz. «Wir sitzen wie auf Nadeln hier …»
Sicher ist: Die Tage der Siedlung Heuried-Küngenmatt sind gezählt. Davon zeugen Bauprofile, Vorboten der Gentrifizierung, die in den nebelverhangenen Wiediker Himmel ragen. Das Bild, das in einem Baum hängt, zeigt einen Bagger, der ein grosses Loch in eine Mauer frisst. Gemalt hat ihn Michelle, von der auch der handgeschriebene Stossseufzer stammt: «Bitte reisst die Häuser nicht ab!!!»
Geht es nach der UBS, bleibt das Wunschdenken. Ein Immobilienfonds der Grossbank plant einen Neubau mit 149 Wohnungen auf dem Areal. Bekannt ist das schon lange, seit ein paar Tagen liegt auch der Bauentscheid der Stadt Zürich vor. Und es bleibt dabei: Spätestens am 30. April nächsten Jahres müssen Liliane Forster und ihr Partner Daniel Naef die 3,5-Zimmer-Maisonettewohnung geräumt haben. Sie wissen noch nicht, wohin sie gehen sollen.
Widerstand statt Resignation
Das Paar ist fest verankert, ihr Leben spielt sich im Quartier ab, hier haben sie ihre Freunde. Forster führte bis zu ihrer Pensionierung 2017 die Videothek «Filmriss». Kameramann Naef wohnt seit 1991 in der Gegend, zuerst am Döltschiweg, dann an der Hanfrose, seit 2005 im Heuried. Als die beiden vor bald 20 Jahren die Wohnung in der Siedlung bezogen hatten, sagten sie sich: «Jetzt sind wir das letzte Mal gezügelt.»
Als der Brief mit der Kündigung kam, fiel Liliane Forster in ein Loch. Ein halbes Jahr lang konnte sie kein Buch mehr lesen, alles sei ihr damals verleidet. Dann entschied sich das Paar, Widerstand zu leisten – gegen ihren Rausschmiss und gegen das Bauvorhaben insgesamt. Eine IG wurde gegründet, Demonstrationen abgehalten und die ursprüngliche Eignerin, die mittlerweile aufgelöste Credit Suisse, in einer Petition aufgefordert, die Siedlung an die Stadt oder einen gemeinnützigen Wohnbauträger zu verkaufen – alles ohne den geringsten Erfolg.
Was den Bewohnerinnen und Bewohnern der Siedlung besonders sauer aufstösst: Die Häuser, die ihr Zuhause sind, wirken alles andere als abbruchreif. Ganz im Gegenteil, heisst es hier: Sie seien «perfekt». Die knapp 100 Quadratmeter grosse Wohnung, für die Forster und Naef monatlich 2500 Franken bezahlen, hat eine moderne Küche, zwei schicke Bäder, Parkettböden. Vor 19 Jahren wurden die 1941 entstandenen Liegenschaften kernsaniert, und erst vor vier Jahren installierte man in den Kellern neue Heizungen, auf den Dächern Solarpanels.
«Reine Bilanzpimperei»
Für Jacqueline Badran steht das Schicksal von Heuried-Klingenmatt exemplarisch für das, was im Schweizer Immobilienmarkt schiefläuft. Es macht sie wütend, dass hier mehr als 100 preisgünstige Wohnungen ohne Not geschleift werden sollen. «Das ist reine Bilanzpimperei», sagt die Zürcher SP-Nationalrätin. Die höheren Mieterträge nach dem Neubau würden den Wert der Siedlung in den Büchern der Grossbank steigern. Die damit erzielten Aufwertungsgewinne flössen dann in Form von Dividenden in die Taschen der Investoren. Badran: «Die Wohnungen sollen den Menschen gehören, nicht dem anonymen Kapital!»
Viel Hoffnung, dass der Kampf in der Siedlung Heuried-Küngenmatt gewonnen wird, kann Badran den Bewohnern indes nicht machen. Es gehe ihr vielmehr darum, dieses «schädliche» Gebaren zu enttarnen und Druck auszuüben. Der Reputationsschaden, den die Bank riskiert, sei nicht zu unterschätzen. Da Wohnen ein Grundrecht sei, so Badran, sollten Häuser von Menschen für Menschen gebaut werden. Den Managern der renditegetriebenen Immobilienfonds schleudert sie entgegen: «Packt eure Koffer und verreist, wir benötigen euch nicht!»
Manche Fragen wurden nie gestellt
Auch Walter Angst vom Zürcher Mieterverband ist der Meinung, dass es so nicht weitergehen kann: «Die dringend nötige Erweiterung des Wohnungsangebots darf nicht zur Zerstörung von preisgünstigen Wohnungen und masslos überteuerten Neubau-Mieten führen.»
Mit der Übernahme der Credit Suisse verfüge die UBS bei den Schweizer Immobilienfonds einen Marktanteil von 50 Prozent – und sei damit der wichtigste Player auf dem Schweizer Immobilienmarkt. Wie verwaltet dieser Gigant sein Portfolio, wie gewichtet er die soziale Nachhaltigkeit? Solche Fragen haben die politischen Entscheidungsträger nie gestellt. Das müsse sich ändern, fordert Angst.
«Auf dem Wohnungsmarkt ist der Kunde nicht der König. Er ist austauschbar.» Deshalb handelten die Verantwortlichen der Immobilienfonds so, wie man das im Heuried jetzt erlebe. Kein Wunder, lehnen die beiden die Mietrechtsvorlagen ab, die im November zur Abstimmung stehen. Beide Änderungen, sagen Angst und Badran unisono, würden die Rechte der Mieterinnen und Mieter erheblich beschneiden.
«Ein Beitrag gegen die Wohnungsnot»
Gegenüber Blick verteidigt eine UBS-Sprecherin das Neubauprojekt. Die Substanz der Liegenschaften sei älter als 80 Jahre; die Gebäude müssten in naher Zukunft umfassend saniert werden. Stattdessen könnten nun auf der gleichen Fläche 41 zusätzliche Wohnungen geschaffen werden. «Das ist ein Beitrag gegen die Wohnungsnot in der Stadt Zürich.» Laut ihren Informationen interessiere sich rund die Hälfte der jetzigen Mieterschaft für eine Rückkehr in die dereinst neu gebaute Siedlung.
Liliane Forster und Daniel Naef gehören nicht zu ihnen. Der neue Mietzins, der sich im quartierüblichen Rahmen bewegen wird, können sie sich nicht leisten. Ihre Suche nach einer Ersatzwohnung blieb bislang erfolglos. Ein Auszug aus der Stadt kommt für beide nicht infrage. Wiedikon ist ihre Heimat, woanders ganz neu anzufangen, können sie sich schlicht nicht vorstellen.
«Wir haben keinen Plan B», gesteht Daniel Naef. Seine Hoffnung liegt nun auf möglichen Rekursen der Anwohner. Auf früheren Plänen seien einige Bäume im Hof der Siedlung als schützenswert bezeichnet worden. Im Bauentscheid ist davon nicht mehr die Rede.
Solange sie nichts gefunden haben, wollen Forster und Naef bleiben – auch über das Kündigungsdatum hinaus. «Ich würde auch in einem Jahr gerne noch hier wohnen», sagt sie. Ihr Partner ergänzt: «Man weiss nie, was noch passieren wird. Wir geben nicht auf.»