Sie tragen fast alle dieselben Sneakers – Nike Air Max 97 oder Air Max Plus. Dazu eine Northface-Jacke und eine Umhängetasche. So wie sich die Jugendlichen in den französischen Banlieues oder in der Westschweiz schon vor über zehn Jahren kleideten. Rund zehn Jungs stehen am Montagabend am Bahnhof Schlieren ZH um einen Roller. Hängen miteinander ab und lachen etwas verhalten, weil sie nicht genau wissen, was der Blick hier eigentlich will.
Seit 2015 hat die Jugendkriminalität in der Schweiz um ein Drittel zugenommen. Über fast alle Delikte. Spitzenreiter: Raubüberfall (plus 146 %) und körperliche Angriffe (plus 122 %). Jungs, wie die Vorstadtkinder aus Schlieren sollen dafür verantwortlich sein. Blick schaute sich in dem Zürcher Vorort um.
Ihr Block, ihr Revier
Die jüngeren Schlieremer (zwischen 13 und 16 Jahren) stehen auf Videos. Man zeigt in kurzen Clips auf Instagram, wie die Lebensrealität der Blockkinder aussieht. Sie nennen ihre Hood in Anlehnung an die Schliermer Postleitzahl 8952 «Huitneufcinqdeux» – kurz: «HNCD». Die Paralellen zu Frankreichs Vororten sind offensichtlich. In den Videos wird Gras geraucht, es werden Schuss- und Stichwaffen gezogen oder Kampfsportkicks gezeigt. Ihre Wohnblocks sind auf den Bewegtbildern allgegenwärtig: hohe, graue Betongebäude, die ein tristes Bild abgeben.
Am Bahnhof in Schlieren treffen sich dagegen die etwas Älteren. Sie machen bereits eine Lehre oder haben sie beendet. Manche fahren schon Auto. Sie versammeln sich um besagten Roller. Einer zeigt, was sie für Musik hören: Gangster-Rap aus Deutschland und Frankreich. Oder eben Rapper aus den eigenen Reihen. «Don D ist gut, sieh dir mal sein Video an», meint einer. David soll ein anderer Rapper aus Schlieren sein. Einer zeigt ein noch unveröffentlichtes Video von ihm, einem Rapper mit weisser Skimaske, auf seinem Handy. Die Themen in den Songs: Drogen, Gewalt, Jungs, Kriminalität. Und immer posiert eine möglichst grosse, maskierte Gang im Hintergrund.
Rap-Karriere oder Bank-Überfälle
Andere, bereits erfolgreichere Zürcher Street-Rapper wie Rapide und Alawi (über 400'000 Klicks für das Lied «Champs-Élysées») aus Adliswil ZH oder Sicario (über 100'000 Klicks für das Lied «Kopfnickersound») aus dem Kreis 4 machen es den Schlieremer Blockkindern vor. Zelebriert wird eine maskuline Gangkultur. Unwahrscheinlich, dass deren Strafakten alle leer sind.
Raubüberfälle hätten mehrere von ihnen schon verübt, gibt einer (19) zu. «Ich war auch bei einem dabei. Ein Kiosk, nur kleine Beute.» Stolz fügt er an: «Wir wurden eine Woche nach dem Überfall alle von der Polizei verhört, aber niemand hat was zugegeben, und am Ende konnte man uns nichts nachweisen.» Auch wer den Migrolino-Shop am Bahnhof Schlieren ausgeraubt habe, wisse er.
Waffen, Drogen, Langeweile
So richtig grosse Dinger mit Diamanten, Kunst oder Überfälle auf Geldinstitute, wo eher Millionen- als Hunderterbeträge zu holen sind, hat noch keiner gedreht. «Wir nehmen eher andere Leute aus. Oder klären Probleme eins gegen eins mit Fäusten. Kommt eine Gruppe von zehn Leuten und wir sind zu zweit – wir würden nicht wegrennen», sagt ein anderer. «Ein paar Leute machen Geld mit Drogen. Aber die meisten arbeiten ganz normal.»
Dennoch beteuern alle: Alles in den Insta-Videos der jüngeren Schlieremer sei echt. «Soll ich eine Waffe holen? In zehn Minuten komme ich mit einer zurück», behauptet einer der Jungs. Den Worten lässt er jedoch keine Taten folgen. Die grossen Coups beeindrucken sie aber, geben die Gangmitglieder zu. Plötzlich spricht man vom Zürcher Fraumünster-Postraub. Einzelne deuten an, zu wissen, wo das nie gefundene Geld abgeblieben ist. Als wäre es in Schlieren.
Alle aus dem gleichen Quartier
Die Gruppe zersplittet sich immer wieder, oft kommen neue Gesichter dazu, andere laufen davon, ohne sich verabschiedet zu haben. Man wird sich an diesem Abend ohnehin noch mehrmals über den Weg laufen.
Blick kommt am Samstagabend nochmals nach Schlieren. Treffpunkt vor dem «Achtzehnten». Im Gebäude mit den achtzehn Stockwerken könne man zuoberst abhängen und rauchen. Wenn man einen Schlüssel habe. Niemand wohnt wirklich in diesem Block, aber man kenne dennoch alle, die dort leben. «Manche von uns wohnen gleich nebenan in diesem Block. Oder dort. Man zieht zusammen um die Häuser», sagt Rassul* (17).
Tim* (20) spricht gerne für die ganze Gruppe. «Hier sind wir mächtig. Ihr kommt in unsere Hood. Habt ihr keine Angst?», will er wissen. «Weisst du, die meisten Jungs haben eine Lehre gemacht. Wir sind nicht dumm, einige sind sogar sehr intelligent. Manche Eltern haben eigene Firmen. Aber unser Ziel ist es gar nicht, dem Block zu entfliehen und irgendwann mal an einem anderen Ort zu leben. Es ist gut hier. Der Zusammenhalt ist stark. Wir haben alles, was wir brauchen.»
Kollege hockt frisch im Knast
Ein anderer, der sich GeKo* nennt, bittet darum, dass «Free David» im Blick steht. David, der lokale Rapper mit der weissen Skimaske, hätte am Samstagabend ebenfalls vor dem Achtzehnten auftauchen wollen. Doch es kommt nur sein Musikproduzent. Der Rapper sitze im Knast. «Er hat jemanden gestochen», wird erklärt. «Der wird jetzt lange sitzen», meint einer. «Aber wir denken an ihn.» Sie würden viele kennen, die im Gefängnis sitzen. «Vielen droht zudem nach der Haft die Ausschaffung.» Dass es ihnen auch passieren könnte, wenn sie zu viel Unfug anstellen, ist den Jungs bewusst. Wieso sie vorbeugend keinen Schweizer Pass haben wollen? – «Weil wir nicht zu diesem Land gehören wollen!», kommt es wie aus der Pistole geschossen.
Es sind alles Secondos. Manche aus den Balkanstaaten, einige aus dem arabischen Raum. Sie würden die Sprache der Heimat ihrer Eltern beherrschen. «Und wir haben Familie dort. Wenn jemand ausgeschafft wird, steht er also nicht vor dem Nichts.» Plötzlich kommt Bewegung in die Gruppe: Innert Minuten haben sich alle zerstreut. Nur Tim und ein anderer bleiben. Er habe eine Lehre abgeschlossen, sagt Tim. «Das ist wichtig. Aber hier bei den Blocks etwas zu sagen zu haben, ist ebenfalls wichtig. Der 13-Jährige, der die Insta-Videos macht, ist für sein Alter schon sehr mächtig. Er wird respektiert. Das ist wie eine Währung hier.»
Fünf Minuten später kehrt ein 17-Jähriger wieder zu Tim zurück, sagt, ein anderer habe ihn Hurensohn genannt. «Das klären wir jetzt», meint Tim. Dann ziehen alle davon.
*Namen geändert