Kriminologe Dirk Baier erklärt, was Gangs attraktiv macht
«Ohne viel zu investieren, gehören sie dazu»

Jugendkriminalität steigt in der Schweiz – und damit auch der Zusammenschluss zu Banden. Diese entstehen sehr lokal, erklärt Kriminologe Dirk Bauer. Besonders für Jugendliche, die ein Identitätsproblem haben, sei das Gang-Leben attraktiv.
Publiziert: 03.05.2021 um 00:37 Uhr
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Aktualisiert: 03.05.2021 um 21:38 Uhr
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Laut Kriminologe Dirk Baier agieren Jugendbanden hierzulande eher in losen Strukturen.
Céline Trachsel

Sie drohen, prügeln, rauben Leute und Läden aus: Jugendliche werden in der Schweiz seit 2015 immer krimineller – Zunahme um ein Drittel.

Dirk Baier ist Kriminologe an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Er beobachtet die Entwicklung: «Jugendgewalt passiert fast immer aus Gruppen heraus. Also wenn die Jugendgewalt steigt, steigt die Gruppengewalt.»

Der Dienst Jugendintervention der Kantonspolizei Zürich meint dazu: «Das Phänomen der Gruppendelikte kennen wir schon länger. Es ist keine neue Erscheinung.» Aber man könne grundsätzlich beobachten, dass die Hemmschwelle für Gewaltanwendung sinke. Zudem gibt es eine Zunahme von Taten mit Messern.

Noch keine Gangstrukturen wie in den USA

Laut Baier agieren Jugendbanden eher in losen Strukturen. Verhältnisse wie in den USA oder Frankreich mit verhärteten Gangstrukturen herrschen in der Schweiz keine. Baier: «Bei uns sind es eher lockere Cliquen – aber sie sind deswegen trotzdem nicht zu unterschätzen.» Delikte passieren hierzulande zudem weniger aus ökonomischen Gründen. «Es geht den Tätern bei uns eher um den Kick oder die Anerkennung in der Gruppe.» Immer öfter gäben sich die Banden auch Namen oder gemeinsame Erkennungsmerkmale.

Konkrete Gründe für die vermehrte Bandengewalt seien schwer auszumachen. Denn: Die Erziehung sei generell in der Schweiz besser und gewaltfreier geworden, die Schulsozialarbeit wurde ausgebaut und die Einkommen seien generell stabil. Baier: «Aber junge Menschen orientieren sich natürlich heute viel mehr am Ausland, sie nehmen wahr, wie sich in anderen Ländern Jugendliche zusammentun.»

Das Dazugehörigkeitsgefühl ist wichtig

Vorbilder seien etwa Gangster-Rapper, die Kriminalität in ihren Songs verherrlichen. Generell sei der Zusammenschluss zu Gangs aber vor allem ein Identitätsthema. Baier: «Mich einer Bande anzuschliessen, heisst, ich bin jemand. Ich gehöre zu einer Gruppe, die anderen vielleicht sogar Angst einjagt. Man muss nicht lange für etwas arbeiten, um Erfolg zu haben. Ohne viel zu investieren, gehören sie dazu. Das macht es so attraktiv.» Man müsse bloss ein paar Werte und Normen zelebrieren und sich zu Gewalt bekennen.

Mit Drohungen, Einschüchterung und dem eigenen Körper Eindruck zu machen, gebe den Jugendlichen zudem ein Gefühl von Macht. Das helfe gegen Ohnmachtsgefühle aus Schule und Familie. «Das Gegenüber hat Respekt, dazu braucht es keine ausgefeilte Argumentation. So erlebt man als junger Mann die eigene Selbstwirksamkeit.» Sich darzustellen und jemanden einzuschüchtern, sei diesen Jugendlichen sehr viel wert. Baier: «Und Respekt ist ja die fundamentale Währung aller Menschen, denn jeder wünscht sich Anerkennung.»

Schlechte Ausbildung macht nicht automatisch kriminell

Das Phänomen betreffe längst nicht nur Migrantenkinder. «Die Anstiege seit 2015 gehen eher auf das Konto von Schweizer Jugendlichen.» Und es seien längst nicht nur von der Gesellschaft abgehängte Jugendliche, die in solchen Gangs mitmischten, sondern auch solche mit guter Ausbildung, die gut integriert wären. «Aber es fehlt in den Familien vielleicht das Materielle oder die emotionale Zuwendung. Zudem leben sie auch in einer Nachbarschaft, die solche Strukturen liefert. Wer weit weg von Hochhäusern wohnt, rutscht wohl weniger in eine solche Clique.»

Immerhin: Das Gang-Leben sei meist nur eine Phase. Laut Baier bringe das Militär, eine feste Freundin oder das Berufsleben die meisten Jugendlichen aus der Situation heraus. «Die meisten schaffen den Weg in die Gesellschaft.» Der Kriminologe gibt aber zu bedenken: «Je mehr sich solche Delinquentengruppen bilden, umso mehr finden sich auch Jugendliche, die das dauerhaft machen werden.»

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