Grelle rote Lichter und dichter Qualm über dem Gästesektor. 1:0 in der 88. Minute gegen Winterthur: Die Servette-Fans feiern ihre Mannschaft. Als der Schiedsrichter den Cup-Halbfinal abpfeift, stürmen einige Genfer den Platz. Ein Vermummter schleudert eine 2000 Grad heisse Fackel mitten in einen Sektor, in dem auch Familien stehen. Nur mit Glück wird niemand verletzt.
Im Stadion sitzt auch Beni Thurnheer (74). Der einstige Sportreporter ist seit 65 Jahren dabei, wenn sein FCW spielt. Was am letzten Sonntag auf der Schützenwiese geschah, hat er so noch nie erlebt. Die Stimmung sei geladen gewesen, so Thurnheer zu Blick. Auch ein paar Winti-Fans hätten provoziert: «Bei jedem Eckball des Gegners wurden die Spieler beschimpft, es war der blanke Hass.»
«Gegen Diskriminierung und Gewalt»
Eine Woche nach dem Skandalspiel herrscht in Winterthur Konsternation. Die Devise des Vereins lautet: «Friede. Freiheit. Fussball.» Es gibt sogar eine Sozialcharta, in der es heisst: «Wir stehen ein für Respekt, Toleranz und Weltoffenheit. Gegen Diskriminierung und Gewalt.»
Dass nach dem Spielfeld-Sturm der Servette-Ultras auch eigene Leute den Rasen betraten, rot-weiss vermummt und ohne friedliche Absicht, bringt das Selbstbild des FC Winterthur und seiner Fans ins Wanken. Die Unschuld scheint an diesem Frühlingsnachmittag definitiv verloren gegangen.
Auf Facebook üben die Winterthurer Selbstkritik. Einer schreibt: «Für die Dummheit der gegnerischen Fans können wir nichts, aber etwas tun gegen die ebenso Dummen aus den eigenen Reihen, das können wir.» Der Tenor ist klar: Was in anderen Stadien trauriger Alltag ist, darf in Winterthur nicht einreissen. Der Verein soll bleiben, was er gefühlt schon immer war – der freundlichste Fussballklub der Schweiz.
Die Geburt der Bierkurve
Dieses Image verdankt der FC einem Mann, der früher in einer Punkband spielte und Häuser besetzte: Andreas Mösli (59). In den Neunzigerjahren hatte sich die Industrie aus Winterthur verabschiedet, der Stadt ging es schlecht, ihrem Fussballklub noch schlechter. Wer etwas erleben wollte, fuhr nach Zürich oder nach Schaffhausen.
Mösli und seine Freunde besuchten trotzig die Spiele des FCW, feierten das Verliererimage. Und weil Niederlagen mithilfe von Alkohol leichter zu ertragen waren, traf man sich am Bierstand und nannte die Versammlung fortan «Bierkurve».
Zu Beginn der Nullerjahre wurde Mösli Geschäftsleiter des FCW. Gegenüber SRF erläuterte er seine Vision von damals. Der Fussball sollte im Mittelpunkt stehen, gleichzeitig war «Mö» aber auch der Meinung, dass wahre Fans ihre Liebe zum Verein nicht vom Torverhältnis abhängig machen sollten. Er wollte aus der «Bruchbude» Schützenwiese eine Stube für die Winterthurer formen. Ein Zuhause ohne goldene Türklinke, in dem vielmehr Werte wie Freiheit und Toleranz gelebt werden.
Möslis Plan ging auf. Während man sportlich in der zweitobersten Liga dahindümpelte, mauserte sich der FC Winterthur zum sympathischen Kultklub mit Linksdrall. Ein Fan, der seit knapp 20 Jahren die Matchtage auf der «Schützi» verbringt, erzählt: «Nach dem Ausgang gings am Sonntag ins Stadion, um dort ein Konterbier zu trinken und eine Bratwurst zu essen. Aus dem Augenwinkel sah man dem Geschehen auf dem Platz zu.»
Die Spiele glichen Sonntagsausflügen: Familien mit Kinderwagen flanierten durch die überschaubaren Reihen – eine Sektorentrennung wie heute gab es noch nicht. Kurz: Fussball war auf der «Schützi» lange Zeit tatsächlich die schönste Nebensache der Welt. Aber mit dem Aufstieg vor zwei Jahren änderte sich das.
Neue Fans, neue Probleme
Seit Winterthur in der obersten Liga spielt, sind spontane Besuche eines Heimspiels kaum mehr möglich. Rund 8500 Fussballfreunde haben im Stadion Platz, 5000 besitzen eine Saisonkarte, die restlichen Tickets gehen meist im Vorverkauf weg. Der sportliche Erfolg hat eine Vielzahl neuer Supporter angezogen. Darunter mutmasslich auch solche, die von der Sozialcharta des FC Winterthur noch nie gehört haben.
Mösli, der beim FCW seit dem Aufstieg im Jahr 2022 als Kommunikationsverantwortlicher amtet, sieht darin nicht zwingend ein Problem. Man könne und wolle nicht sämtliche Matchbesucher beim Eingang auf ihre Gesinnung überprüfen, sagte er diese Woche im SRF-Podcast «Sykora Gisler».
Die Bierkurve sei zum grössten Jugendhaus der Region geworden. Nun gelte es, dafür zu sorgen, dass die Werte weiter geschätzt werden. «Alle sind aufgefordert, ihren Beitrag zu leisten.» Den Spagat zu schaffen, im Profifussball zu bestehen, ohne seine Seele zu verkaufen, wird für den FC Winterthur die grösste Herausforderung in den kommenden Jahren.
Bierkurve steht vor Zerreissprobe
Nachdem sich der Petardenrauch über der Schützenwiese verzogen hatte, redete am letzten Sonntag in der Bierkurve niemand mehr über die unglückliche Niederlage gegen Servette. Alle fragten sich: «Was ist hier gerade geschehen?» Dass ein paar Trottel die Bühne der Super League für ihre kriminellen Taten ausnutzen, stinkt den meisten. Was dagegen hilft, bleibt im gesamten Schweizer Fussball ein ungelöstes Rätsel.
Der Winterthurer Kultklub sieht sich vor einer Zerreissprobe. Eine Frau, die vor einer Woche in der Bierkurve stand, sehnt sich nach den alten Zeiten: «Inzwischen gibt es zu viele Idioten in unseren Reihen.» Als sie nach dem Platzsturm die Heisssporne mässigen wollte, wurde sie davongejagt, die Situation drohte zu eskalieren. Heute sagt sie: «Ganz ehrlich: Auf der Schützi war es lässiger, als wir noch in der Nati B kickten.»
Gestern Abend trafen Winterthur und Servette erneut aufeinander – diesmal in Genf. Die Servette-Fankurve war wegen des Vorfalls von letztem Sonntag gesperrt. Im und ums Stadion herum blieb es ruhig.