Chaoten werfen wieder einmal einen dunklen Schatten auf den Schweizer Fussball. Die Fackelwürfe und Ausschreitungen von Winterthur ZH ziehen bereits erste Konsequenzen nach sich. Der Servette-Fansektor wird beim Spiel am Samstag gegen Winterthur gesperrt. Doch wie weiter danach? Blick hat nachgefragt bei verschiedenen Protagonisten.
Der Grundtenor: Angst haben müssen Fans weiterhin nicht. Eine Familie müsse sich keine Sorgen machen, ein Spiel zu besuchen, sagt etwa Berns Sicherheitsdirektor Reto Nause. Einig sind sich aber auch alle darin, dass die Fackelwerfer harte Konsequenzen zu spüren haben. Die Swiss Football League fordert gar, dass sie ins Gefängnis gehören.
Übrigens hätte Blick gerne auch die Fan-Sicht gehört und deshalb bei mehreren Fan-Vertretungen nachgefragt. Sämtliche Anfragen blieben allerdings entweder unbeantwortet oder es wurde an andere Organisationen verwiesen.
Welche Konsequenzen sollten die Vorfälle von Winterthur nach sich ziehen?
Reto Nause, Nationalrat und Sicherheitsdirektor der Stadt Bern: «Zum Vorfall in Winterthur müssen sich die Behörden dort äussern. Aber im Zusammenhang mit diesem Spiel gehe ich davon aus, dass es Sanktionen gegen die Servette-Fans geben wird (Anm. d. Red.: Mittlerweile wurde Servette-Fansektor für das Spiel am Samstag gegen Winterthur gesperrt). Was den Cupfinal betrifft: Seit Sonntag kennen wir die Paarung und werden den Dialog mit Klubs, Fanarbeit und Fussballverband suchen. Der Cupfinal ist ja etwas speziell: Man hat ja keinen Gästesektor, sondern je 15'000 Fans der beiden Finalisten im Stadion und in der Stadt. Da muss die Fantrennung bei An- und Abreise gut organisiert sein.»
Philippe Guggisberg, Kommunikationschef Swiss Football League: «Die Arbeitsgruppe der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz (KKJPD) hat den Schweizerischen Fussballverbands (SFV) und die Swiss Football League (SFL) nach einer gemeinsamen Sitzung zu den Vorfällen im Cupspiel vom vergangenen Sonntag zwischen dem FC Winterthur und dem Servette FC über die Auflagen beim Meisterschaftsspiel der Super League zwischen den beiden gleichen Klubs vom kommenden Samstag in Genf informiert (Sperrung der Kurve der Servette-Fans). Parallel dazu läuft das Verfahren seitens des SFV. Die Kontroll- und Disziplinarkommission (KDK) des SFV wertet zurzeit die Rapporte, Bilder und Zeugenaussagen zu den Vorfällen im Stadioninneren aus und wird zeitnah über Sanktionen und Massnahmen entscheiden. Die SFL appelliert dabei an alle Beteiligten – hier stehen Klubs, SFL und Polizei in der Verantwortung –, die Einzeltäter, die sich nachweislich strafbar gemacht haben, konsequent zu identifizieren und dafür zu sorgen, dass jemand, der Pyros auf Menschen wirft, abschreckend bestraft wird – und auch ins Gefängnis muss. Hier stehen Klubs, SFL und Polizei gemeinsam in der Verantwortung.»
Alain Brechbühl, Projektleiter Forschungsstelle Gewalt bei Sportveranstaltungen Uni Bern: «Auf jeden Fall adäquate straf- und verwaltungsrechtliche Konsequenzen (Rayonverbot oder Meldeauflage) für die Täter. Ein internes Aufarbeiten zwischen Klub und der Fankurve scheint ebenfalls unabdingbar. Hierbei könnten die angedachten ‹Kluballianzen› hilfreich sein. Im Hinblick auf die Anpassung der Sicherheitsmassnahmen bei solchen Spielen sowie Konsequenzen auf Verbandsebene kann ich mit meinen vorliegenden Kenntnissen keine Beurteilung vornehmen.»
Karin Kayser-Frutschi, KKJPD-Präsidentin: «Die Bewilligungsbehörden der Städte und Kantone haben heute auf Antrag der Stadt Winterthur getagt, wir haben uns aber auf Ausschreitungen ausserhalb des Stadions konzentriert. Diese Vorfälle haben wir als gravierend eingestuft, weshalb es zeitnah Konsequenzen braucht. Das haben wir nun mit der angekündigten Sperrung des Fansektors des Servette FC beim nächsten Heimspiel gegen den FC Winterthur am 4. Mai getan.»
Würden Sie einer Familie noch empfehlen, ein Spiel der Super League zu besuchen?
Reto Nause: «In Bern? Ja.»
Philippe Guggisberg: «Das Werfen von pyrotechnischen Gegenständen ist ein Gewaltdelikt, das durch die Justiz zwingend hart zu ahnden ist. Dieser Vorfall ist absolut verwerflich und nicht tolerierbar und wir appellieren an alle Beteiligten, die Einzeltäter zu identifizieren und zu bestrafen. Es handelt sich aber um einen Einzelfall und ein vergleichbarer Vorfall ist in den bisherigen 190 Meisterschaftsspielen der Super League und 160 Partien der Challenge League nicht vorgekommen.»
Alain Brechbühl: «Gemäss vorliegenden Umfragewerten fühlen sich die meisten Stadionbesucherinnen und -besucher relativ sicher. Ich gehe davon aus, dass auch dieser Zwischenfall nicht dominant etwas an dieser Einschätzung geändert hat. Glücklicherweise sind solche Pyro-Würfe doch verhältnismässig selten. Insofern steht meines Erachtens einem Stadionbesuch mit der Familie nichts im Weg.»
Karin Kayser-Frutschi: «Ich kann jede Person verstehen, die sich nach den Bildern vom Sonntag fürchtet. Viele Menschen sind gegen Gewalt im Stadion, ich wünsche mir, dass hier jeder und jede hinschaut und diese Gewalt verurteilt.»
Haben wir in der Schweiz ein Problem mit Fan-Gewalt?
Reto Nause: «Zwar ist die Zahl der Fälle leicht rückläufig. Doch das Ausmass der Gewalt pro Fall nimmt zu. Wir haben Eisenstangen auf dem Rasen (bei Lugano – FCB, Anm. d. Red.), Pyrowürfe wie jetzt in Winterthur, eine Attacke auf einen Buschauffeur in Zürich. Die Situation bleibt also unberechenbar.»
Philippe Guggisberg: «Das Gesamtschweizerische Lagebild Sport des Fedpol zeigt über die letzten Jahre eine klar rückläufige Zahl von Gewaltvorfällen im Umfeld von Fussballspielen in der Schweiz – obwohl eine Rekordzahl von Fans die Spiele in den Stadien besucht. In der laufenden Saison wurden die wenigsten Vorfälle seit Bestehen des Lagebildes festgestellt, obwohl die Anzahl Spiele stark gestiegen ist. Aber: Jeder Vorfall ist einer zu viel und wird aufs Schärfste verurteilt!»
Alain Brechbühl: «Die Zahlen zu Super-League-Spielen mit schwerer Gewalt waren letzte Saison rückläufig. An dieser Einschätzung ändert sich auch nichts, wenn die Cup-Spiele dazugezählt werden. Für diese Saison kann noch kein abschliessendes Fazit gezogen werden. Allerdings sieht es bisher aus, dass man auf einem ähnlichen Niveau wie letzte Saison landet, oder sogar noch etwas tiefer.»
Karin Kayser-Frutschi: «Von Fanarbeitern und Wissenschaftlern wird gerne gesagt, es gebe weniger Ausschreitungen. Auf dem Papier mag das stimmen, aber Bilder in den Stadien sprechen andere Sprache.»
Sind wir auf dem richtigen Weg, die bestehenden Probleme zu lösen?
Reto Nause: «Wir waren auf dem richtigen Weg, indem wir mit Klubs und Liga im Dialog waren und gemeinsam das Kaskadenmodell erarbeitet haben. Zu unserer grossen Verwunderung hat die Liga dann einen Rückwärtssalto gemacht. Doch die Behörden können auch einseitig Massnahmen ergreifen. Und der politische Wille dazu ist grösser als in der Vergangenheit.»
Philippe Guggisberg: «Die langjährige Erfahrung zeigt, dass präventive Massnahmen und der Weg des Dialogs immer zu den besten Resultaten geführt haben. Die SFL und die Klubs sind überzeugt, dass der eingeschlagene Weg und insbesondere die lokalen Stadionallianzen am besten geeignet sind, um die Herausforderungen gemeinsam zu meistern. Die SFL und die Klubs werden auch in Zukunft jederzeit konstruktiv und kooperativ mit allen Beteiligten zusammenarbeiten, um die Sicherheit innerhalb und ausserhalb der Stadien zu gewährleisten.»
Alain Brechbühl: «Um es vorwegzunehmen: Eine komplette Beseitigung von Gewalt scheint mir eine völlig unrealistische Forderung zu sein. Unsere Gesellschaft ist ja letztlich auch nicht gewaltfrei und auch bei anderen Bereichen mit kriminellen Handlungen gelingt eine komplette Beseitigung nicht. Ich appelliere entsprechend an alle, realistische Erwartungen bezüglich Problemlösung zu haben. Auf wissenschaftlicher Ebene ist mir keine Lösung bekannt, die das Problem von heute auf morgen behebt. Andere Länder kämpfen teils noch mit weitaus erheblicheren Problemen als die Schweiz. Eine nachhaltige Lösung braucht viel Geduld und Durchhaltevermögen. Aus wissenschaftlicher Sicht können folgende Punkte hervorgehoben werden: Eine wirkliche Gewaltprävention sollte bereits im Kindes- und Jugendalter ansetzen. Dies sollte verstärkt werden, beispielsweise mit sozioprofessioneller Fanarbeit, aber auch mit weiteren Massnahmen, und zwar aller involvierten Anspruchsgruppen. Für das Gewährleisten von möglichst friedlichen Sportveranstaltungen sollten eine dialogbasierte Herangehensweise und enge Absprachen die Grundlage bilden. Damit sind Abläufe klar und wir ermöglichen die Wahrnehmung von Legitimität. Verfügbare und etablierte Dialogpersonen aller Anspruchsgruppen sorgen dabei für einen bestmöglichen Austausch. Bei Spielen mit hoher Rivalität ist eine saubere Fantrennung unabdingbar. Auch die Repression ist wichtig. Diese sollte aber möglichst individuell sein und nicht auf kollektiven Massnahmen basieren. Für die Fernhaltung gewalttätiger Personen haben wir durchaus wirksame Instrumente, namentlich die Fernhaltemassnahmen des Konkordats. Diese werden von den betroffenen Fans auch weitestgehend akzeptiert. Letztlich ist es aber auch notwendig, dass noch weitere Forschung zu den Interaktionen und Dynamiken bei Fussballspielen in der Schweiz durchgeführt wird.»
Karin Kayser-Frutschi: «Es gibt keine einfache Lösung. Gäbe es die, hätten wir sie längst ergriffen. Aber die Klubs und der Schweizerische Fussballverband müssten mehr Verantwortung übernehmen, damit Einzeltäter bestraft werden können.»
Im Moment stehen verschiedene Massnahmen im Raum. Das Kaskadenmodell kommt, vorgeschlagen werden immer wieder auch personalisierte Tickets. Wie beurteilen Sie diese Massnahmen?
Reto Nause: «Personalisierte Tickets haben zumindest einen Vorteil: Klubs und Fans fordern immer die Einzeltäterverfolgung. Das ist mit personalisierten Tickets sicher einfacher. Zumindest hat man dann einen Anhaltspunkt für eine Strafverfolgung.»
Philippe Guggisberg: «Es gilt in erster Linie, das bestehende Hooligan-Konkordat anzuwenden und die vorgesehenen polizeilichen Massnahmen der Einzeltäterverfolgung mit Stadionverbot, Rayonverbot und Meldeauflage konsequent umzusetzen. Neue Massnahmen einzuführen, solang bewährte, bereits bestehende Massnahmen nicht konsequent angewendet werden, ist nicht zielführend und eskaliert die Situation eher, als dass es sie beruhigt.»
Alain Brechbühl: «Beim Kaskadenmodell sehen wir verschiedene Aspekte kritisch. Dies betrifft einerseits das Thema ‹Kollektivmassnahmen›, das gemäss vorliegender Erkenntnisse die Solidarität unter den Fans eher stärkt und damit den Widerstand gegen Massnahmen erhöht. In der Regel war die Mehrheit der von Sektorsperren betroffenen Fans nicht in die relevanten Ereignisse involviert. Auch die Einordnung des Kaskadenmodells als präventives Instrument (basierend auf dem Hooligan-Konkordat) ist – gerade im Hinblick auf die in Vergangenheit angeordneten Sektorsperren – teils unklar. Zumindest einige der verfügten Massnahmen hatten einen stark sanktionierenden Charakter, was nur beschränkt mit der bundesgerichtlichen Einordnung des Konkordats als rein präventives Instrument zusammenpasst.
Bei den personalisierten Tickets sind wir wenig überzeugt von der Wirksamkeit. Einerseits bergen personalisierte Tickets grosse Herausforderungen bei der Umsetzung, insbesondere bei der Einlassphase, die deutlich verlängert wird. Eine klare Zuordnung von Taten wird auch mit personalisierten Tickets nicht möglich. Zwar wird der Täterkreis eingeschränkt, allerdings nur, wenn die Handlung im Stadion stattfand. Gemäss den vorliegenden Daten spielen sich aber die meisten gewalttätigen Handlungen auf den Reisewegen – und damit ausserhalb der Stadien – ab. Ähnliche Erfahrungswerte zeigten sich in Italien mit personalisierten Tickets, die insgesamt keine Problembeseitigung bewirkten. Der Punkt mit dem Stadion bezieht sich ebenfalls auf das Kaskadenmodell, das auch Massnahmen beinhaltet, die sich dominant auf das Stadion beziehen. Bei beiden Massnahmen sind starke Protest- und Gegenbewegungen der Fans zu erwarten.»
Karin Kayser-Frutschi: Als KKJPD-Präsidentin wurde sie zu diesem Thema nicht befragt.