Sie erniedrigen andere, wenden Gewalt an und streamen ihr Tun – auch live – auf Social-Media-Plattformen: Seit Monaten sorgen sogenannte Crimefluencer wie Brian Keller (28) und Giorgio L.* (32) alias Skorp808 durch fragwürdige Aktionen für eine angespannte Stimmung in der schweizerischen Social-Media-Szene. Die beiden Ex-Häftlinge präsentieren sich vor allem auf Tiktok als gewaltbereite «Ehrenmänner». Ihre Entourage mischt stets kräftig mit.
Kaum aus der Haft entlassen, drohte Brian Keller im Januar Skorp808 in einem Tiktok-Kurzvideo und rief andere dazu auf, dem Influencer Gewalt zuzufügen. Der Grund: Er soll über Keller gelästert haben. Dann zog Keller los und tauchte vor dem Wohnhaus von Giorgio L. auf. Auch diesen Moment hielt der Ex-Häftling auf Social Media fest. Letzte Woche eskalierte die Situation vollends: Keller boxte Skorp808 nieder. Ein Video davon wurde sogleich von Opfer und Entourage rege auf verschiedenen Kanälen geteilt. Kurz darauf suchten zwei Tiktoker aus dem Umfeld von Brian – D.* und F.* – das Prügelopfer auf. Dieser jagte sie mit einem Messer durch die Stadt Zürich. Seine Aktion streamte der Influencer wiederum selbst live auf Tiktok. Danach wurde L. festgenommen.
Neben dem Zwist zwischen Keller und Skorp808 sorgten auch andere Live-Streamer aus demselben Zürcher Milieu für heftige Reaktionen: So als etwa der oben genannte Tiktoker F. im letzten Herbst eine Frau angriff und schlug – wiederum gut dokumentiert auf einem Video. Oder als Tiktoker Ö. Y.* diesen März während einer Live-Session im Drogenrausch eskalierte, Dinge zusammenschlug – bis schliesslich die Polizei ausrückte. Im Live-Stream dabei: Skorp808. Neben den gewaltvollen Aktionen kommt es auf verschiedenen Plattformen zwischen den Social-Media-Persönlichkeiten regelmässig zu den gröbsten Beleidigungen und Erniedrigungen – wie etwa das Posten von realen intimen Videos oder selbstgebastelten Memes mit derbem Inhalt.
Warum streamen Tiktoker ihre Gewalttaten auf Social Media? Und welche Anreize spielen für Content-Creator wie Keller, Giorgio L. und Co. eine Rolle, obwohl sie sich damit selbst schaden können?
Konflikte extra provoziert
Kriminologe Dirk Baier (47) weiss: «Konflikte werden extra für Klicks provoziert. Diese Influencer verkaufen Gewalt als Spektakel.» Als Anreiz sieht Baier in erster Linie Anerkennung und Sichtbarkeit: «Viele Likes und Follower stehen für eine gewisse Berühmtheit.» Trotz virtuellen Geschenken während der Live-Streams – die gegen reales Geld eingetauscht werden können – ist Baier sich sicher: «Für die wenigsten dürfte sich dies dann auch finanziell lohnen.»
Sowieso hätten soziale Medien von sich aus Eskalationspotenzial: «Einfach, weil kurze Texte oder Videos schnell missverstanden werden können; dann wird auf eine als Provokation wahrgenommene Äusserung gleich die nächste, schärfere Provokation gepostet. Am Ende muss man, um die eigene Ehre oder die Ehre der Gruppe zu verteidigen, die Sache mit den Fäusten klären.»
Bystander heizen Konflikt weiter an
Ein Problem seien dabei die sogenannten Bystander, so Baier, die Schaulustigen: «Die geposteten Inhalte sehen viele andere – auch Unbeteiligte. Manche giessen dann noch weiter Öl ins Feuer. Andere sind passiv, erzeugen aber dennoch einen gewissen Handlungsdruck, weil man vor diesen nicht als Schwächling dastehen möchte.»
Dass gerade Videos von Gewalt von den Crimefluencern gestreamt werden, habe wiederum vor allem mit der Selbstinszenierung zu tun, so Baier: «Man will sich als starken Typ zeigen und erwartet Anerkennung. Doch diese Personen haben meist nicht viel, worauf sie in ihrem Leben stolz sein können, weshalb sie nur zeigen können, wie sie ihre Männlichkeit beweisen.»
Geringe Selbstkontrolle
Dass sich die Crimefluencer mit ihren gewalttätigen Streams oder Posts selbst schaden können, werde aus unterschiedlichen Gründen ausser Acht gelassen: «Manche sind der arroganten Auffassung, dass die Polizei ihnen letztlich eh nichts anhaben kann. Andere wiederum bedenken die Konsequenzen tatsächlich schlicht nicht mit», erklärt Baier. Es sei bekannt, dass eine geringe Selbstkontrolle eines der Hauptmerkmale von Gewalttätern sei. «Dies bedeutet, dass man die Folgen seines Handelns nicht ausreichend antizipiert.» Diese geringe Selbstkontrolle könnte auch für ein impulsiveres Posting-Verhalten relevant sein, sagt Baier.
Inzwischen sitzen Keller, Giorgio L. sowie die Tiktoker D. und F. hinter Gittern – wegen Taten in der realen Welt, die aber viel mit ihrem Auftritt in sozialen Medien zu tun haben.
* Namen bekannt