Auf einen Blick
- 105 Parteien erhalten Kündigung in Zürcher Siedlung
- Kinder haben Angst, ihre Freunde zu verlieren
- Sanierung als Ausrede bezeichnet
- Grosse Solidarität unter Nachbarn
Die Stimmung in drei der sechs Häuser an der Neugasse im Zürcher Kreis 5 ist von Trauer und Fassungslosigkeit geprägt. Aufgrund eines Eigentümer- und Verwaltungswechsels erhielten 105 Parteien die Kündigung. Auf Ende März 2025 müssen sie raus.
Die Bewohnerinnen und Bewohner der betroffenen Siedlung auf dem Röntgenareal, auch bekannt als «Sugus-Häuser», können es kaum fassen. Viele wohnen seit Jahrzehnten hier, haben Familien gegründet und ihre Kinder grossgezogen. Der Schock sitzt tief.
«In drei Monaten schlafe ich unter der Brücke»
Eine von ihnen ist Karin Athanasiou (55). Sie wohnt in der Siedlung, seit diese 1999 gebaut wurde. «Wir waren damals in der Familienplanung und haben gesehen, dass dort zahlbare Wohnungen für Familien entstehen», sagt sie zu Blick. Athanasiou hat dort zwei Kinder grossgezogen und war froh, ihnen ein richtiges Zuhause bieten zu können. Die Kinder sind mittlerweile erwachsen und würden wohl bald ausziehen, trotzdem ist die Hiobsbotschaft unfassbar schlimm, für die 55-Jährige.
«Ich hätte nicht allein in einer so grossen Wohnung bleiben wollen», erklärt sie. Den sozialen Gedanken, den der Erbauer Leopold Bachmann hatte, ist für sie etwas Schönes, was es zu ehren gelte. «Vielleicht hätte ein junges Paar mit Familienwunsch Wohnungen tauschen wollen oder so», meint sie.
Dass sie nun nach 25 Jahren innert dreier Monate ausziehen soll, lässt sie fassungslos zurück. «Ich bin schockiert über diese Kaltblütigkeit», sagt sie. Der Grund der Kernsanierung ist für sie aus der Luft gegriffen. «Dass unsere Wohnungen in einem fürchterlichen Zustand seien, stimmt einfach nicht», so Athanasiou. Da der Wohnungsmarkt so hart umkämpft ist und günstige Wohnungen praktisch nicht zu finden sind, meint die 55-Jährige mit gequältem Lächeln: «In drei Monaten schlafe ich unter der Brücke».
Kinder haben Angst, ihre Freunde zu verlieren
Auch Familie Baumann ist bestürzt über die Nachricht. Seit sechs Jahren wohnen sie in den Häusern. Die beiden Buben, vier und sechs Jahre alt, gehen hier im Quartier in den Chindsgi und in die Schule.
«Dieser Ort ist geschaffen für Familien», sagt die 41-jährige Mutter. Man habe hier alles, was es für ein friedliches Zusammenleben und eine glückliche Kindheit brauche. «Sie haben hier ihre Freunde und immer jemanden zum Spielen», sagt sie.
Es sei schwierig, den Kindern zu erklären, was hier vor sich geht. «Sie haben Angst. Angst davor, ihre Freunde zu verlieren und kein Zuhause mehr zu haben», so Baumann. Die Siedlung sei wie ein kleines Dorf. Man kennt sich hier und man schätzt das Miteinander.
Ein «Schlag ins Gesicht»
Seit bereits 18 Jahren wohnt Maja Ammann in ihrer Wohnung. Sie dachte, als sie den eingeschriebenen Brief bei der Post abholte, dass es sich um die angekündigte Mieterhöhung handle. Weit gefehlt.
«Das hat mir den Boden unter den Füssen weggezogen», erzählt sie. «Es ist völlig klar, dass es hier nur um den Profit geht. Es ist einfach grauenhaft», so Ammann. Auch sie erzählt von dem grossen Zusammenhalt innerhalb der Siedlung und den Festen, die gemeinsam organisiert werden.
Mit ihren Nachbarn in den nicht betroffenen Häusern habe sie regelmässig Kontakt. «Die müssten ja genau wie wir auch ‹unzumutbare› Wohnungen haben. Diese Kündigung ist ein Schlag ins Gesicht» so die 71-Jährige.
Von den Familien und Mieterinnen und Mietern der anderen Sugus-Häuser, die nicht von der Sanierung betroffen sind, «erfahren wir unfassbar viel Unterstützung und Support», sagen die Betroffenen einstimmig.
Grosse Solidarität in der Siedlung
Ein Nachbar aus einem der anderen Häuser bestätigt das. «Es besteht sehr viel Kontakt zwischen allen Mietenden. Ich war entsetzt, als ich gehört habe, was hier passiert», sagt Herr Baumgartner (66).
Er selber wohnt seit 14 Jahren in der Siedlung. Die Aussage mit der notwendigen Kernsanierung sei «absolut lächerlich», sagt er. «Dafür habe ich absolut kein Verständnis. Es sieht wirklich so aus, als ginge es nur um Profit», ist sich Baumgartner sicher.
Ihm zufolge gäbe es auch genügend Lösungen, wie die Mieterinnen und Mieter nicht auf einen Schlag ausziehen müssten. «Einige in den restlichen Häusern haben schon frei stehende Zimmer angeboten, um einen Teil der Betroffenen aufzunehmen», aber das sei natürlich nur eine Übergangslösung. Zum Beispiel während der Zeit der Sanierungen ergänzt er. «Hier ist nicht auch nur ein Gedanke an die Betroffenen geflossen. Es ist eine Schande», sagt der 66-Jährige.
Neue Verwaltung verweist auf öffentliches Statement
Von den insgesamt neun «Sugus»-Häusern werden nur die vorderen drei saniert. Die hinteren beiden Reihen gehören anderen Eigentümern und werden noch von der Verwaltung betreut, die bis zum 26. November die gesamte Siedlung verwaltete.
Die neue Verwaltung verweist, von Blick mit den Vorwürfen und Fragen konfrontiert, auf die veröffentlichte Stellungnahme. Bei der Leopold Bachmann Stiftung hiess es auf Anfrage: «Da die Leopold Bachmann Stiftung nicht Eigentümerin der Immobilien im Röntgenareal ist, können wir uns nicht zu dieser Angelegenheit äussern.»