Experte Vontobel ordnet ein – und warnt
Stadt und Gesellschaft gehen wegen Wohnungsnot vor die Hunde

Die Wohnungsnot macht das System Stadt kaputt, sagt das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW). Und untertreibt damit massiv. Wirtschaftsexperte Werner Vontobel warnt vor dem Untergang des Systems Stadt.
Publiziert: 22.10.2024 um 16:07 Uhr
|
Aktualisiert: 22.10.2024 um 16:37 Uhr
1/5
Damit die Stadt funktionieren kann, braucht es Menschen, die darin leben und arbeiten.
Foto: Sven Thomann

Auf einen Blick

  • Städtische Mieten sind unbezahlbar für viele Arbeitende
  • Pendlerströme zeigen das Ausmass des Problems in der Schweiz
  • Fast jeder zwölfte Erwerbstätige in der Schweiz ist Grenzgänger
  • Das System Stadt ist bedroht
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
Werner Vontobel

In der Stadt sind die Wege kurz. Läden, Schulen, Restaurants, Parks, Kinos – alles nah beisammen. Und wenn es brennt oder brenzlig wird, müssen auch Polizei oder Feuerwehr schnell auf dem Plan sein. Das wiederum setzt voraus, dass die Menschen, die in der Stadt und für die Stadt arbeiten, auch dort wohnen können. Diese Zeiten sind vorbei.

Das Deutsche Institut für Wirtschaft (DIW) illustriert das Dilemma in seiner neuesten Studie am Beispiel des fiktiven Michael Egeler. Er arbeitet als Serviceassistent an der Uniklinik in Tübingen und verdient netto rund 1900 Euro. Eine Wohnung in Tübingen würde ihn mehr als die Hälfte davon kosten. Also wohnt er in 32 Kilometern Entfernung auf dem Land. Das kostet ihn zeitlich 2 bis 3 Stunden Arbeitsweg und finanziell fast den Lohn einer Stunde Arbeit. Unter dem Strich bleibt ihm ein Stundenlohn von deutlich unter 10 Euro. Und weil Egeler keine Ausnahme ist, gelingt es nicht nur der Uniklinik, sondern auch der Feuerwehr, der Polizei, dem Detailhandel etc. immer weniger, das nötige Personal zu finden und zu halten. Das Modell Stadt ist am Anschlag.

In der Schweiz noch extremer

Dass dies erst recht für die Schweiz gilt, beweisen die riesigen Pendlerströme, die sich täglich in unsere Zentren ergiessen. Und das zeigen auch die Mieten der Wohnungen, die etwa auf homegate.ch inseriert werden. In Zürich sind unbefristete Angebote unter 2800 Franken ein Glückstreffer. Doch für die allermeisten städtischen Dienstleister frisst das mehr als die Hälfte des verfügbaren Einkommens. Das gilt erst recht für alle Isolierer, Gipser, Maurer und Fliesenleger, die für wenig Lohn unsere teuren Wohnungen bauen.

Sie sind, wie der TA kürzlich berichtete, zu 58 bis 80 Prozent Ausländer und sind es gewohnt, lange Arbeitswege und -zeiten auf sich zu nehmen und auf knappen Raum zu wohnen. Am billigsten geht das im angrenzenden Ausland. Inzwischen ist fast jeder zwölfte Erwerbstätige in der Schweiz ein Grenzgänger und deren Anteil nimmt ständig zu.

Reiche bevorzugt

Doch unser auf Standortvorteile durch tiefe Steuern basierendes Wirtschaftsmodell lebt nicht nur von den armen, sondern vor allem auch von den reichen Ausländern. Unsere Exportfirmen sind auf den Import von gut bezahlten Fachkräften angewiesen. Und die tiefen Steuersätze locken reiche Steuerflüchtlinge aus der ganzen Welt in die Schweiz. Das erklärt, warum in Zug 2,5- oder gar 1-Zimmerwohnungen für 4800 Franken oder gar 5580 Franken angeboten werden. Meist auf Englisch: «Are you going to be the happy one who will inhabit this exclusive…»

Der Umstand, dass an den guten Standorten die Mieten hoch, aber die Steuern tief sind, hat auch eine massive Umzugstätigkeit losgetreten – die Armen in die Vororte und aufs Land, die Reichen nach Zollikon und nach Zug. Dass in Zug weit überdurchschnittlich viele Topverdiener leben, zeigt sich unter anderem daran, dass der durchschnittliche Zuger jährlich 7691 Franken direkte Bundessteuer bezahlt, mehr als zweimal so viel wie der durchschnittliche Zürcher mit 2991 Franken und fast sechsmal so viel wie ein Berner mit 1289 Franken. Reich und Reich gesellt sich gern – zumal das wiederum die Steuersätze senkt.

Zuwanderung verursacht Kosten

«Die Zuwanderung ist der Preis des Schweizer Erfolges. Erfolgsverzicht ist keine Alternative», kommentierte letztes Jahr die «NZZ». Das ist nicht ganz falsch, aber arrogant: Erstens würden «unsere» Fachkräfte auch bei sich zu Hause gebraucht. Zweitens: Die rumänische Pflegerin, die bei uns das Baby eines «Powercouples» sittet, lässt zwei eigene Kinder, eine kranke Grossmutter und eine gute Freundin zurück und sie fehlt im Kirchenchor. Nur so als Beispiel.

Drittens: Gemessen am Wachstum des BIP pro Kopf ist das, was die «NZZ» «Schweizer Erfolg» nennt, mit jährlich 0,7 Prozent seit der Einführung der Personenfreizügigkeit bestenfalls Mittelmass. Kommt dazu, dass wir diese 0,7 Prozent teuer erkaufen müssen. Wir stehen heute siebenmal länger im Stau und brauchen sehr viel mehr Zeit und Geld für die langen Arbeits- und Einkaufswege. Wir müssen öfter umziehen, was auch Geld kostet. Und wir verwenden einen beträchtlichen Teil des BIP, um für die jährlich 80'000 bis 100'000 Zuwanderer Wohnungen, Schulhäuser und Verkehrswege zu bauen. Das BIP ist zwar gestiegen, aber es steckt immer weniger Brauchbares drin!

Bedrohte Gesellschaft

Und vor allem: Die Expats, die hier einen gut bezahlten Job ergattert haben, brauchen eine Bleibe und müssen dafür den Schweizer Bodenbesitzern einen hohen Eintrittspreis bezahlen. Von den 4800 Franken für die 1-Zimmerwohnung in Zug entfallen mindestens 3000 Franken allein auf das Bauland. Und beim Kauf einer Wohnung oder eines Einfamilienhauses kostet das Eintrittsticket auf den Schweizer Boden von einer Million aufwärts. Das Problem dabei ist, dass die Bodenbesitzer dieses Eintrittsgeld nicht nur von den reichen Expats einfordern können, sondern auch von allen Einheimischen, die neu eine Wohnung suchen oder suchen müssen, weil ihre alte luxussaniert wird.

Die Folge davon ist eine riesige Umverteilung von den vielen Mietern und Wohnungssuchenden zu den wenigen Bodenbesitzern. Das wiederum führt dazu, dass immer grössere Teil des BIP für reinen Luxuskonsum verschwendet wird, während den Menschen, die noch echte Bedürfnisse haben, die Kaufkraft immer mehr abhandenkommt. All das widerspiegelt sich nicht in den Zahlen – wie BIP-Wachstum, Einkommen pro Kopf oder Exportüberschuss – mit denen die Ökonomen den Erfolg ihrer Wirtschaftspolitik messen.

Und die deshalb übersehen, wie sehr ihre wirtschaftspolitischen Rezepte nicht nur das «Modell Stadt», sondern die ganze Gesellschaft kaputtmachen.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.