Kaum hat das Jahr begonnen, herrscht schon wieder dicke Luft im Bundesratszimmer. Mittendrin: Alain Berset (50, SP), frisch gewählter Bundespräsident. Es wäre Teambuilding angezeigt, denn die Landesregierung gilt schon länger als dysfunktionales Gremium. Dank den beiden Neuzugängen schien die Gelegenheit dafür sogar günstig. Doch aus dem erhofften Neustart wurde ein Fehlstart: «So fütterte Bersets Departement den Blick», lautete nur eine der Schlagzeilen.
An der Sitzung am Mittwoch muss sich der Innenminister nun unangenehmen Fragen stellen. Wusste er von einer «Standleitung», die sein ehemaliger Kommunikationschef Peter Lauener (53) mit Marc Walder (57), dem CEO des Ringier-Verlags, unterhalten haben soll? Und: Wurden vertrauliche Informationen zu Covid-Massnahmen systematisch an die Presse weitergereicht, um Druck auf den Gesamtbundesrat auszuüben? «Darüber werden wir wohl reden im Bundesrat», sagte Aussenminister Ignazio Cassis (61, FDP) am WEF in Davos GR.
In Bern herrscht Aufregung
Die Geschichte ins Rollen gebracht hat vor einer Woche die «Schweiz am Wochenende». Die Zeitung zitierte aus Mails, die Lauener mit Walder ausgetauscht hatte. Dabei handelt es sich um Auszüge jenes Schriftverkehrs, den Sonderermittler Peter Marti (70) bei seiner Untersuchung der Krypto-Affäre als «Beifang» gemacht haben soll. Unklar und daher Gegenstand einer weiteren Untersuchung ist, wie die Journalisten in den Besitz dieser Beweismittel gekommen sind.
Auf jeden Fall herrscht seither Aufregung in Bern – und beim Ringier-Verlag in Zürich, der auch den SonntagsBlick herausgibt. Er wolle sich nicht zum laufenden Verfahren äussern, betonte Berset mehrmals. Auch Ringier-CEO Walder schweigt. Lediglich Christian Dorer (47), Chefredaktor der Blick-Gruppe, hielt am Dienstag auf der Titelseite der gedruck-ten Ausgabe fest: «Niemand beeinflusst Blick!» Der Vorwurf, Bersets Innendepartement habe die Zeitung gezielt mit Interna bedient und dafür wohlwollende Berichterstattung erhalten, sei falsch.
Mitte-Partei verzichtet auf Stellungnahme
Kommende Woche werden sich die Geschäftsprüfungskommissionen der beiden Räte mit der Angelegenheit beschäftigen. Bis das weitere Vorgehen bekannt ist, dürfe man keine voreiligen Schlüsse ziehen, so der Tenor bei den meisten Parteien. Mitte-Chef Gerhard Pfister (60) schrieb, er verzichte auf eine Stellungnahme, da für ihn schlicht zu viele Fragen völlig offen seien.
GLP-Präsident Jürg Grossen (53) liess ausrichten, er habe keine Lust, Öl ins Feuer zu giessen. Einzig die Junge SVP liess in einer Medienmitteilung verlauten: «Treten Sie zurück, Alain Berset!» Einen Abgang «in Ehren» würden auch der Zürcher Nationalrat Alfred Heer (61, SVP) und dessen Aargauer Ratskollege Andreas Glarner (60) begrüssen. Letzterer sagt gegenüber SonntagsBlick: «Ich persönlich würde Berset raten zu gehen.»
Berset wird ein Rücktritt nahe gelegt
Die erste Garde der SVP, die auf dem Höhepunkt der Pandemie wiederholt schweres Geschütz gegen Berset auffuhr, schlägt derweil verblüffend diplomatische Töne an. Es habe offenbar einen Pakt zwischen Bersets Departement und Ringier gegeben, sagt SVP-Präsident Marco Chiesa (48). Der SP-Bundesrat, der für eine institutionelle Krise in der Regierung verantwortlich sei, solle die Konsequenzen selber ziehen. Er müsse sich fragen: «Was mache ich noch in diesem Gremium, ohne Vertrauen, ohne Glaubwürdigkeit?»
Chiesa legt dem Bundespräsidenten also einen Rücktritt nahe, ohne den Begriff «Rücktritt» in den Mund zu nehmen. 2021, auf dem Höhepunkt der Pandemie, klang das aus der SVP-Chefetage noch anders. Da sagte etwa Fraktionschef Thomas Aeschi (44) dem Nachrichtenportal nau.ch: «Der Gesundheitsminister ist nach unzähligen Fehlleistungen nicht mehr tragbar.»
Chiesa twitterte am 17. Februar 2021 gegen Bersets Corona-Kurs an: «Jetzt braucht es Widerstand!» Zur gleichen Zeit warnte Christoph Blocher (82) vor einem Corona-Alleinherrscher Berset: «Die Demokratie wird ausgeschaltet. Du bist der Diktator, du sagst, wie es ist.»
Wahljahr könnte Berset entgegen kommen
Letzten Dienstag twitterte die Kabarettistin Patti Basler (46): «Wäre Berset eine Frau, es hätte sie längst den Kopp gekostet.» Alt Bundesrätin Elisabeth Kopp (86) musste Ende der 80er-Jahre zurücktreten, nachdem sie vertrauliche Informationen an ihren Mann weitergegeben hatte.
Im Fall Berset jedoch hat das Ausbleiben scharfer Rücktrittsforderungen weniger mit dem Geschlecht als mit dem Timing zu tun, vermutet Politgeograf Michael Hermann (51). Alain Berset sei im Volk immer noch extrem beliebt. Die Parteien überlegten es sich daher gerade in einem Wahljahr zweimal, ob sie eine Attacke gegen den amtierenden Bundespräsidenten lancieren sollen. Hermann: «Als die SVP Berset als Diktator bezeichnet hatte, ging der Schuss nach hinten los. Deswegen hütet man sich nun davor, grobes Geschütz aufzufahren.»
Will SP-Führungsduo die Krise aussitzen?
Chiesas Zurückhaltung sei Ausdruck des Umstands, dass man sich eben doch nicht ganz aus der Deckung wagt. Stünde die ehemalige Bundesrätin Simonetta Sommaruga (62, SP) im Fokus, würde die SVP viel aggressiver auftreten, ist Hermann überzeugt. Einen weiteren möglichen Grund für die Beisshemmungen der SVP ortet Hermann bei der Prioritätensetzung im Wahljahr: «Auch wenn das Thema politisch jetzt vielleicht noch ein bis zwei Monate weiterdreht, wird sich die Bevölkerung schon bald nicht mehr sonderlich dafür interessieren.»
Den Eindruck, die Krise aussitzen zu wollen, machte vergangene Woche das SP-Führungsduo Cédric Wermuth (36) und Mattea Meyer (35). Mails blieben unbeantwortet, Telefone ausgeschaltet. Erst gestern äusserte sich Wermuth in der «Samstagsrundschau» auf SRF1. Der Aargauer Nationalrat räumte ein, es habe Indiskretionen gegeben: «Das ist ein Problem.» Ob es sich im aktuellen Fall um Amtsgeheimnisverletzungen gehandelt habe, müsse die Justiz beurteilen.
Wermuth beklagte die Skandalisierung eines Einzelfalls: «Die Landesregierung ist ein absolutes Sieb.» Wer etwas anderes behaupte, sei ein Heuchler. Auf die Frage, ob Berset noch tragbar sei, antwortete Wermuth: «Ich bin weder Richter noch Prophet.» Klar sei, dass die Enthüllungen zum jetzigen Zeitpunkt den Eindruck erweckten, dass es sich um eine Kampagne im Wahljahr gegen den im Volk beliebten SP-Bundesrat handle. «Das überrascht mich allerdings nicht.»
Grünen-Präsident will lückenlose Aufklärung
Eine lückenlose Aufklärung der Affäre erwartet Grünen-Präsident Balthasar Glättli (50). So, wie sich die Situation aktuell darstelle, handle es sich um eine systematische Verletzung des Amtsgeheimnisses: «Wenn das zutrifft, ist es falsch und inakzeptabel.» Der Zürcher Nationalrat hofft auf einen raschen Entscheid der GPK, wie die Vorfälle zielführend zu untersuchen seien. Generell kritisieren die Grünen die Häufung von Lecks im Bundesrat in jüngster Zeit – auch aus anderen Departementen. «Der Bundesrat als Institution ist in der Krise, das gegenseitige Vertrauen fehlt offensichtlich», so Glättli. Für die Bewältigung der grossen anstehenden Herausforderungen, namentlich der Klimakatastrophe, der unsicheren Energieversorgung und der ungelösten Europa-Frage, sei das verheerend.
Auch FDP-Präsident Thierry Burkart (47) meint, die Angelegenheit müsse gründlich untersucht werden. Sollten sich die Vorwürfe einer systematischen, lang andauernden Weitergabe vertraulicher Informationen von Bundesratsgeschäften bewahrheiten, untergrabe dieses Verhalten die Funktionsweise der Landesregierung im Allgemeinen und das Kollegialitätsprinzip im Speziellen. «Aus heutiger Sicht ist die bisherige Erklärung von Bundespräsident Berset, wonach er von diesem Informationsfluss nicht gewusst haben will, wenig plausibel.» Burkart fordert nicht nur eine juristische, sondern auch eine politische Aufarbeitung. «Wenn die Glaubwürdigkeit der Institutionen untergraben wird, gibt es nur Verlierer.»
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