Rindsplätzli, Kochbutter, Deos
So dreist klauen Schweizerinnen und Schweizer im Migros & Co

Die Diebstahlquote im Detailhandel nimmt zu. Mit der Inflation dürfte sie noch weiter ansteigen. Deshalb rüsten Migros und Coop auf: mit Kameras, Schranken und zusätzlichen Ladendetektiven.
Publiziert: 14.05.2023 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 14.05.2023 um 10:10 Uhr
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19’781 Diebstähle verzeichnete die Kriminalstatistik 2022 - rund 20 Prozent mehr als im Vorjahr und ein neuer Höchststand.
Foto: Keystone
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Lisa AeschlimannReporterin & Blattmacherin

Juli 2022: Eine 31-Jährige will in der Migros-Filiale im Zürcher Glattzentrum für rund 1323 Franken einkaufen – Elektronik, Spielsachen, Fleisch. Viel Fleisch: Bio-Entrecôtes für 198, Rindsplätzli für 130 und Hobelfleisch für 252 Franken. Mit dem Subito-Gerät scannt sie aber nur neun Artikel im Wert von 40 Franken, gerät beim Check-out in die Stichprobenkontrolle – und fliegt auf.

Zudem hatte ein Ladendetektiv zuvor beobachtet, wie die Mutter zweier kleiner Kinder die Ware im Einkaufswagen zwischen zwei Regalen so umschichtete, dass das teure Fleisch von aussen nicht mehr zu sehen war. Letzte Woche stand sie vor Gericht.

In der Schweiz wird geklaut, was das Zeug hält: Die Frau ist kein Einzelfall, sondern Teil eines neuen Rekords – 19 781 Diebstähle verzeichnete die Kriminalstatistik 2022, das sind 3000 oder rund 20 Prozent mehr als im Vorjahr und ein neuer Höchststand seit 2009.

Käse und Frischfleisch werden meist geklaut

Wobei das nur ein kleiner Teil von dem sein dürfte, was tatsächlich gestohlen wird: Erst ab einem Warenwert von 300 Franken wird Diebstahl zum Offizialdelikt, unterhalb dieser Schwelle liegt es im Ermessen der Filiale, ob Anzeige erstattet wird. Einige Kantone kennen zudem das vereinfachte Verfahren ohne Anzeige.

Bei Schweizer Langfingern sind Fleisch und Elektronik am beliebtesten; weltweit ist es Käse. Im Detailhandel begehrt sind insbesondere teure Parmesan-Sorten, teilweise werden sie weiterverkauft. So steht es in einem Bericht des britischen Centre for Retail Research, für den 1187 Detailhandelsketten in 43 Ländern untersucht wurden. Der Käseklau ist gar so verbreitet, dass mehr als vier Prozent der weltweit hergestellten Produktionsmenge gestohlen werden.

Schweizweit dürften Detailhändlern durch derlei Delikte jährlich Hunderte von Millionen Franken entgehen. Aktuelle Zahlen geben zwar weder Coop noch Migros, Aldi oder Lidl bekannt; im Juni 2022 aber sagte ein Migros-Sprecher zu «20 Minuten»: «Ein Prozent des Umsatzes an den Kassen wird vermutlich vergessen zu scannen.» Bei einem Umsatz von rund 30 Milliarden wären das 300 Millionen Franken – pro Jahr.

In Deutschland zeigte eine Umfrage unter Detailhändlern, dass 2021 Waren im Wert von rund 3,2 Milliarden Euro gestohlen wurden.

Die Inflation könnte das Problem zusätzlich verschärfen: «Die höheren Preise und Werte machen Diebstahl interessanter», heisst es in der Studie.

Die Inflation macht weltweit neue Diebe. In den USA berichten 70 Prozent aller Detailhändler von zunehmenden Fallzahlen.In Grossbritannien nahmen die polizeilich angezeigten Diebstähle im Handel 2022 um 16 Prozent zu. Sie erreichten damit den höchsten Stand seit 45 Jahren – wie auch die Inflationsrate. Britische Supermärkte haben inzwischen begonnen, Cheddar und Butter mit Schlössern zu sichern.

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Und in der Schweiz? Lidl schreibt, man könne in letzter Zeit einen leichten Anstieg an Diebstählen feststellen. Weil Frischfleischartikel besonders oft geklaut werden, sichert der Discounter seit letztem Sommer selbst günstigere Produkte wie etwa Lammnierstücke für 10 Franken elektronisch ab. Migros und Aldi verzeichnen konstante Zahlen, Coop gibt keine Auskunft.

Mehr als jeder Zehnte liessen schon etwas mitgehen

Die um sich greifende Kleinkriminalität beschäftigt aber alle. Denn vor allem an Self-Check-out-Kassen, auf die die Discounter immer intensiver setzen, wird geklaut. Die Gründe sind naheliegend: Steht man keinem Menschen mehr gegenüber, sinkt die Hemmschwelle – und im Falle einer Kontrolle kann man Artikel ja immer als «vergessen» deklarieren. Derlei Tricksereien erscheinen aber kaum in einer Statistik.

Florim Abazi, Inhaber der Sicherheitsfirma Prime Security und selbst als Ladendetektiv unterwegs (siehe Artikel rechts), nimmt bei seinen Ermittlungen wahr, dass deutlich mehr geklaut wird. Und: «Unsere Auftraggeber haben seit ein paar Monaten ihre Budgets für Sicherheitsmassnahmen erhöht.»

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Tatsächlich verschärften die Detailhändler ihre Gangart. Als Reaktion auf den Self-Check-out-Betrug stellte die Migros Genossenschaft Zürich Ende Dezember 2022 in sechs Geschäften testweise Schranken bei selbstbedienten Kassen auf, die sich erst nach dem Scannen des Kassenbons öffnen. Auch bei Aldi und Lidl kommen Schranken zum Einsatz. Gemäss «St. Galler Tagblatt» will die Migros auch beim Selfscanning-System sicherheitstechnisch aufrüsten. Genauere Angaben machen sie nicht.

Bekannt ist, dass Überwachungskameras bisher schon grossflächig eingesetzt werden und sowohl Coop als auch die Migros Ladendetektive beschäftigen – bei Coop kommt eigenes wie externes Personal zum Einsatz. Bei beiden Detailriesen sind gleich mehrere solche Stellen ausgeschrieben. Lidl und Aldi machen Stichprobenkontrollen, setzen aber ansonsten auf «regelmässig geschultes» und «aufmerksames Personal».

Die Detailhändler betonen, dass «ehrliche und freundliche Menschen» den grössten Teil ihrer Kundschaft ausmachen. Fragt man die Kunden selbst, sieht es aber anders aus: Gemäss einer Erhebung des Internet-Vergleichsdienstes moneyland.ch hat rund die Hälfte von 1500 Befragten bereits einmal gestohlen. Mehr als jede zehnte Schweizerin und jeder zehnte Schweizer liessen im Migros oder Coop etwas mitgehen, ein Prozent sogar oft.

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Ob die zweifache Mutter des Zürcher Falls zu den Wiederholungstätern gehört, ist nicht bekannt. Das Gericht verurteilte die 31-Jährige zu einer bedingten Geldstrafe von 45 Tagessätzen à 70 Franken – total 3150 Franken. Die beantragte Busse von 700 Franken wurde der Diebin erspart. Man gehe davon aus, dass das Zahlen der Verfahrenskosten von 3700 Franken Strafe genug sei, hiess es.

Vor Gericht meinte die Verurteilte noch, sie werde «nie mehr» ein Selfscanning-Gerät in die Hand nehmen. Das darf sie auch nicht, zumindest nicht in «ihrer Migros»: Die Filiale im Glatt erteilte ihr ein Hausverbot.

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