In Freiburg im Breisgau (D) bebte diese Woche die katholische Welt. Ein am Dienstag veröffentlichtes Gutachten hält fest: Der frühere Chef der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch (84), hat Missbrauchstäter geschützt und Verbrechen vertuscht.
Das Gutachten ist 582 Seiten dick und eine Schande für die Kirche. Recherchen von SonntagsBlick zeigen: Auch ein Schweizer Priester ist Thema des Gutachtens. Es ist Pater Gregor Müller. Der Schweizer trat einst in die Zisterzienserabtei Wettingen-Mehrerau ein. In den 1960er-Jahren verging sich der Priester an Ministranten in Birnau am deutschen Bodenseeufer.
Pater Müller war Mehrfachtäter
Ordensleute sind international aktiv. Die Zisterzienser von Wettingen-Mehrerau haben ihre Zentrale im österreichischen Vorarlberg, sind aber ebenfalls in Deutschland tätig. So auch Pater Gregor Müller. Einen Ministranten missbrauchte er «in mindestens 30 bis 50 Fällen», wie das Freiburger Gutachten festhält. Ein anderer Ministrant berichtete laut Gutachten: Der Pater lockte ihn mit «Aussicht auf Schokolade auf sein Zimmer» und versuchte dort, «in seine kurze Lederhose an das Glied zu greifen». Der Ministrant wehrte sich. Der Pater gab ihm zehn D-Mark Schweigegeld.
Das Gutachten zeigt, wie das deutsche Erzbistum Freiburg die ganze Sache vertuschte. Pater Gregor Müller erinnert an einen toxischen Wanderpokal, der zwischen der Schweiz, Österreich und Deutschland weitergereicht wurde.
In den 70er-Jahren fasst Pater Gregor Müller Fuss im Bistum Basel. 1985 hat er in Baden AG Sex mit einem Tschechoslowaken. Akten, die SonntagsBlick vorliegen, zeigen: Der Mann war 28 Jahre alt und damit volljährig. Doch er war psychisch labil, suchte Halt. Mutmasslich nutzte Pater Gregor Müller die Situation aus.
Besonders tragisch: Der Tschechoslowake brachte später in Wettingen AG ein 16-jähriges Mädchen mit einem Küchenmesser um. Im anschliessenden Gerichtsprozess ging es auch um die Frage, inwiefern der Sexkontakt mit dem Priester zur Tat geführt hatte. Offenbar plagten den Tschechoslowaken Schuldgefühle, er handelte im Wahn.
Kirche wusste von den Vorfällen
Später war Pater Müller im Bistum Chur tätig, in Schübelbach SZ. SonntagsBlick liegt eine brisante Aktennotiz vor. Am 23. September 1992 fand in Chur GR eine Besprechung statt. Anwesend waren Müller, ein Rechtsanwalt und der damalige Generalvikar für die Urschweiz. Dieser leitete bis vor kurzem als Domdekan das Churer Domkapitel. Thema des Gesprächs war der Vorfall in Baden.
In der Aktennotiz steht: «Nach Alkoholgenuss kam es zu homosexuellen Kontakten mit einem Sektenanhänger (einmalig). Der Sektenanhänger ermordete drei Tage später ein Mädchen, um seine Sünde gutzumachen. Es besteht also kein kausaler Zusammenhang, da der Mörder als geistig abnorm eingestuft wurde und die Entgleisung unter Trunkenheiten zustande kam.»
Haben Sie Hinweise zu brisanten Geschichten? Schreiben Sie uns: recherche@ringier.ch
Haben Sie Hinweise zu brisanten Geschichten? Schreiben Sie uns: recherche@ringier.ch
Die Aktennotiz des Bistums Chur hält fest: «Einzig durch die Aussage des Mörders kam diese Verfehlung zu Tage und ist nur im Gerichtsprotokoll enthalten.» Obwohl das «Badener Tagblatt» damals über den Fall berichtet hatte, behauptete Müller, in Baden sei nichts bekannt geworden.
Wie der Aktennotiz zu entnehmen ist, war Pater Gregor Müller auch ein Thema im Bischofsrat von Chur. Der damals verantwortliche Bischof war Wolfgang Haas (74). Der ist immer noch Bischof – allerdings nicht mehr in Chur, sondern in Liechtenstein. Wegen massiver Beschwerden wurde für ihn 1997 das Erzbistum Vaduz geschaffen. Seitdem ist Haas Erzbischof von Vaduz
Trotz Bedenken gab der Churer Bischofsrat 1992 seinen Segen. Allerdings hält die Aktennotiz fest, dass der Priester und der Ort Schübelbach «das Risiko eingehen und der Bischof und Bischofsrat keine Verantwortung übernehmen».
Gutachten hinterfragt Darstellung der Kirche
2010 flog Müller öffentlich auf. Aber nur, weil ein Opfer Druck machte. 2006 hatte sich der Betroffene zum ersten Mal gemeldet – doch nichts passierte. Erst als der ehemalige Ministrant ankündigte, beim sonntäglichen Gottesdienst in Schübelbach Pater Gregor mit seinen Taten zu konfrontieren, tat sich etwas.
2010 war Vitus Huonder Bischof von Chur. Dieser liess Bischofsvikar Christoph Casetti ausrichten, das Bistum Chur sei «zu keinem Zeitpunkt» über sexuelle Übergriffe des Paters auf Minderjährige informiert worden. Die deutschen Gutachter halten diese Darstellung für unglaubwürdig.
Das Gutachten stellt auch die Frage nach den Verantwortlichen. Nicht nur der Abt von Wettingen-Mehrerau sei für Müller zuständig gewesen, sondern auch die jeweiligen Bischöfe, bei denen der Priester wirkte. Dies gilt also auch für den damaligen Bischof von Basel, Otto Wüst, und Bischof Wolfgang Haas.
Kirche drückt ihr Bedauern aus
Pater Gregor Müller kann nicht mehr befragt werden. Er ist am 1. Mai 2017 gestorben. «Er lebte privat. Sein Aufenthaltsort war dem Abt bis zuletzt nicht bekannt», teilt die Abtei Mehrerau mit.
Der Bischof von Basel, Felix Gmür (56), sagt zu SonntagsBlick: «Ich bedaure die aus heutiger Sicht grobfahrlässigen Entscheidungen der damaligen Verantwortlichen ausserordentlich.» Die Sprecherin des Bistums Chur, Nicole Büchel, schreibt: «Bischof Joseph Bonnemain bedauert sehr, dass die Verantwortlichen im Jahre 1992 sich so verhalten und entschieden haben. Er wird aus aktuellem Anlass die gesamten Akten nochmals eingehend prüfen, analysieren sowie allfällige Massnahmen treffen.»
«Musterbeispiel für die systematische Vertuschungspolitik»
In Fribourg lehrt der Moraltheologe Daniel Bogner. Er sieht in Pater Gregor Müller ein «Musterbeispiel für die systematische Vertuschungspolitik von Kirchenleitungen bei Missbrauchstätern», und zwar über Landesgrenzen hinweg. «In Deutschland wie in der Schweiz haben höchste Kirchenverantwortliche und Bistumsleitungen eiskalt und empathielos agiert. Ihnen ist ausschliesslich am Ruf der Organisation gelegen, nicht aber an den Opfern des Missbrauchs.»
Besonders empört ihn die Aktennotiz 1992 aus dem Bistum Chur. «Der Schlüsselsatz lautet: Bischof und Bischofsrat übernehmen keine Verantwortung.» Ein Bischof habe immer Verantwortung für seine Diözese.
Erzbischof Wolfgang Haas war für SonntagsBlick nicht zu erreichen. Spätestens am 12. September kommen weitere Details zum Schweizer Missbrauchskomplex ans Licht. Dann veröffentlichen Historikerinnen und Historiker der Uni Zürich Ergebnisse einer einjährigen Pilotstudie. Die eigentliche Forschungsarbeit soll danach beginnen. Es gibt viel zu tun.