Auf einen Blick
- Kampf um Erhalt des Mitteldamms in der Aare
- Eniwa plant, den Damm zur Erhöhung der Stromproduktion zu entfernen
- Gegner erwarten 5000 Unterschriften bis Jahresende
Spätsommer. Wer kann, taucht nochmals ein ins kühle Nass. Gut möglich, dass es das letzte Mal sein wird in diesem Jahr. Oder sogar für immer, wie hier im Mittelland, zwischen dem Stauwehr Schönenwerd und dem Wasserkraftwerk Aarau. Auf jenem Abschnitt der Aare, den manche «Amazonas der Schweiz» nennen.
Geht es nach den Kraftwerksbetreibern, sind die Tage des idyllischen Badeparadieses gezählt. Der Stromversorger Eniwa will die Bagger auffahren lassen und den Damm in der Mitte des Flusses entfernen, der dem Naherholungsgebiet den Charakter eines verwunschenen Dschungels verleiht.
Gegen das Vorhaben hat sich schon vor Jahren Widerstand formiert. Jetzt spitzt sich der Kampf um den sogenannten Mitteldamm zu.
Ritual an heissen Tagen
«Haben Sie bereits unterschrieben?» Christoph Müller, Vizepräsident der SVP Aarau und Mitglied des Stadtparlaments, hält einer Schwimmerin eine Petition unter die Nase, die den «vollständigen Verzicht auf den Abbruch des Mitteldamms» fordert. Stattdessen soll die Stadt Aarau als Hauptaktionärin die Eniwa damit beauftragen, massiv in den Ausbau von Fotovoltaik-Anlagen zu investieren.
Begonnen mit der Sammelaktion hat der Verein Rettet den Mitteldamm Ende August. Am Samstag hatten bereits knapp 2000 Personen unterschrieben, bis Ende Jahr sollen es 5000 sein. Auch die Schwimmerin setzt vor dem Sprung in den Kanal ihren Namen unter das Anliegen. Sie sagt: «Hier zu baden, ist ein wunderschönes Ritual, es macht glücklich!»
Vor fünf Jahren, als die Eniwa ihre Pläne für die Kompletterneuerung des Kraftwerks vorstellte, begann das Hickhack um den Mitteldamm. Abbruchgegner erster Stunde ist Leo Keller, Präsident des Vereins Rettet den Mitteldamm. Der 75-Jährige ist sich Auseinandersetzungen mit Stromfabrikanten gewohnt. Mitte der 70er-Jahre war er Mitverfasser wissenschaftlicher Gutachten zur Einsprache gegen die AKW Gösgen und Leibstadt.
Dass dieser romantische Fleck im Grenzgebiet der Kantone Aargau und Solothurn für die Stromproduktion geopfert werden soll, will dem SP-Mitglied und Sonnenenergie-Fürsprecher nicht in den Kopf. «Am Anfang standen die Emotionen, dann kamen die Zahlen ins Spiel.» Erhöhte die Entfernung des Mitteldamms die Wasserstromproduktion um 30 Prozent, würde Keller die Kröte schlucken. Doch die Massnahme führe bloss zu einer Mehrproduktion von 4 Gigawattstunden pro Jahr (3 Prozent). Die 20 Millionen Franken, die der Abbruch des Damms gemäss seiner Berechnung kosteten, stünden in keinem Verhältnis zum Nutzen.
Klassischer Zielkonflikt
Womit wir bei den Zahlen wären. Hans-Kaspar Scherrer, CEO der Eniwa, legt in einem Sitzungszimmer am Hauptsitz in Buchs AG komplett andere auf den Tisch als jene, die Kellers Leute verbreiten. «Es ist mir schleierhaft, wie dieser Verein rechnet», sagt Scherrer. Zwar treffe zu, dass die Entfernung des Mitteldamms allein «nur» zu einer Mehrproduktion von 4 Gigawattstunden führte, doch insgesamt werde das neue Kraftwerk über 20 Prozent mehr Strom produzieren können.
Die 20 Millionen Franken, die der Abbruch des Mitteldamms gemäss Gegner kosteten, seien aus der Luft gegriffen. Scherrer rechnet mit höchstens 8 Millionen – oder womöglich sogar mit überhaupt keinen Kosten: «Wenn das Kiesmaterial von guter Qualität ist, kann es als hochwertiges Baumaterial wiederverwendet werden.»
Das Projekt habe den Segen sämtlicher Behörden, alle Parteien – ausser seit kurzem die SVP – seien dafür, die Bundesämter für Energie und Umwelt hätten die Pläne für gut befunden. Nun müsse man sich die Frage stellen, was höher zu gewichten sei: die Möglichkeit, in einem Kanal zu schwimmen – oder mehr erneuerbaren Strom zu produzieren. Ein klassischer Zielkonflikt also, wie er überall in der Schweiz schwelt: Naturschutz oder grüne Energie?
Der Forderung, mit Fotovoltaik jährlich 300 Gigawattstunden mehr Strom zu erzeugen, erteilt der Eniwa-CEO eine Absage. Dem Netz fehle die Kapazität, man müsste es dafür verdreifachen. Ausserdem vergleiche der Verein Äpfel mit Birnen. Energie werde im Winter benötigt, wenn über dem Mittelland eine Nebeldecke liegt. Mehr Sonnenenergie führe zu einem Überschuss, den niemand wolle. «Weshalb sollen wir in unwirtschaftliche Massnahmen investieren?»
Mehr zu Stromproduktion
Der Zank um den Mitteldamm dürfte noch eine Weile andauern. Die Gegner haben zwei Trümpfe im Ärmel. Derzeit warten alle auf ein Urteil des Bundesgerichts. Es geht darum, ob vier Beschwerdeführende, die gegen den Abbruch des Mitteldamms Einsprache erhoben haben, dazu überhaupt berechtigt sind.
Später wird sich ein Gericht im Aargau mit der Frage befassen, ob der Abriss des Kraftwerkgebäudes gegen das Gesetz verstösst. Die gesamte Anlage befindet sich im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder von nationaler Bedeutung. Der Verein «Rettet den Mitteldamm» zeigt sich kompromissbereit: Man werde die Klage gegen das Kraftwerkprojekt zurückzuziehen, falls die Eniwa auf den Abbruch des Mitteldamms verzichtet.
Für Eniwa-CEO Scherrer kommt das nicht infrage. Man lasse sich nicht erpressen. Er rechnet damit, dass in fünf bis sechs Jahren mit der Kompletterneuerung des Kraftwerks begonnen werden kann. Dazu werde die Entfernung des Mitteldamms gehören. Aber auch der Bau von Ein- und Ausstiegsstellen im Kanal, von Duschen und Toilettenanlagen. Das Erlebnis, sagt Scherrer, werde nicht mehr ganz dasselbe sein wie heute. Dem Wohlfühlfaktor tue dies jedoch keinen Abbruch. «Die Leute schwimmen schliesslich auch im Rhein.»
Joints und Freinächte
SVP-Einwohnerrat Christoph Müller schmeckt dieses Zückerchen nicht. Er kämpft weiter für den «Amazonas der Schweiz». Alle, die in der Gegend aufgewachsen seien, hätten einen Bezug zum Mitteldamm. An den Ufern des Kanals haben viele ihren ersten Schulschatz geküsst, den ersten Joint geraucht und die ersten Freinächte gefeiert.
Dazu gehören auch Oliver Bieli und Christina Zinniker, die an diesem Nachmittag mit Hündin Dew unterwegs sind. Sie schätze es, mit anderen ins Gespräch zu kommen und dass sie ihren Vierbeiner hier ohne Leine herumrennen lassen dürfe, sagt die Aargauerin. «Es wäre schade, wenn man das kaputtmachen würde.»