Vor einem Jahr machte der Bundesrat die Schulen dicht. Ab dem 13. März 2020 mussten Kinder und Jugendliche zu Hause büffeln.
Schülerinnen und Lehrer wurden von einem Tag auf den nächsten vor neue Herausforderungen gestellt – Unterricht via Videokonferenz und über Lernplattformen. Experten befürchteten Bildungslücken und eine Verschärfung der sozialen Ungleichheit. Und tatsächlich ist es dazu auch gekommen.
Unfreiwilliges Experiment
Die Soziologin Marianne Rychner und die Heilpädagogin Bettina Faraj werfen gleichwohl einen anderen Blick auf den Schul-Lockdown. «Natürlich ist es wichtig, dass man die negativen Seiten des Lockdowns sieht und auch etwas dagegen tut», sagt Marianne Rychner. «Aber wir fragten uns, wo sich die Schulschliessungen auch positiv auf Kinder und Jugendliche ausgewirkt haben – und was das für die Zeit nach Corona bedeuten könnte.»
Tatsächlich litten nicht alle Kinder unter den Schulschliessungen – auch Kinder aus unterprivilegierten Milieus nicht zwingend. Im Gegenteil: Einige Kinder blühten regelrecht auf, waren glücklicher und leisteten gar mehr.
Lernaufträge besser abstimmbar
«In der Schule geht man oft von einem konstanten Leistungsmuster von Schülerinnen und Schülern aus, individuelle Entwicklungen können dabei zu kurz kommen», sagt Marianne Rychner. Zudem blende die Schule teilweise die unterschiedlichen Hintergründe und Voraussetzungen der Lernenden aus, was ebenfalls Ungleichheit verstärke.
Der Lockdown hat gezeigt: Es könnte auch anders gehen – sofern denn die Betreuung auch aus der Ferne gewährleistet ist. «Heilpädagoginnen konnten zum Beispiel die Lernaufträge viel genauer auf bestimmte Kinder, ihre Interessen und ihren Leistungsstand abstimmen», sagt Bettina Faraj. «Kinder, die im Klassenverband sonst schnell abgelenkt sind, konnten sich auf einmal besser konzentrieren.» Etwa der neunjährige Sohn einer alleinerziehenden Mutter, der sonst in der Schule rasch abgelenkt ist. «Zu Hause war er sehr motiviert und konzentriert beim Lernen und kam auch nicht auf die Idee, sich mit den anderen zu vergleichen, weil diese Möglichkeit gar nicht existierte.» Und er konnte Stoff nachholen, für den er im normalen Schulalltag keine Zeit hatte, weil er dort möglichst mit der Klasse mitkommen muss.
Aufmerksamkeit als Pausenglocke
Auch bei einigen Kindern mit einer Aufmerksamkeitsstörung konnte Faraj eine positive Veränderung beobachten. «Sie mussten nicht mehr so lange still sitzen und konnten die Aufgaben nach ihrem eigenen, durch Bewegung unterbrochenen Muster erledigen», sagt sie. «Es gab Kinder, die morgens effizient wie nie ihre Aufträge erledigten, um dann am Nachmittag im Wald Hütten zu bauen.» Wie individuell Kinder lernen, zeige auch das Beispiel eines Geschwisterpaars mit Migrationshintergrund: «Während die jüngere Schwester wegen der Gspänli die Schule vermisste, arbeitete der zwölfjährige Bruder trotz schwieriger Bedingungen lieber zu Hause, wo nicht nur er, sondern auch sein Deutsch lernender Vater davon profitierten, dass sie die Aufgaben zusammen lösen konnten.»
Auch die Beziehung zwischen Lehrpersonen und Eltern habe sich im Lockdown teilweise verbessert, sagt Faraj. «Der Kontakt zwischen uns und ihnen war enger, pragmatischer und unaufgeregter. Ich habe das als vertrauensbildende Erfahrung erlebt.» Rychner erklärt sich dies damit, dass für einmal weniger die standardisierten Standortgespräche im Zentrum standen als vielmehr konkrete Probleme, die gemeinsam zu lösen waren. «Eltern und Schulpersonal arbeiteten Hand in Hand.»
Lockdown als Lehrplatz
Marianne Rychner und Bettina Faraj sind sich sicher: Die Erfahrungen aus dem Lockdown müssten genauer untersucht und genutzt werden, um die Schule neu zu denken – sie vielleicht sogar umzubauen. Die unterschiedlichen Formen von Bildung könnten stärker voneinander getrennt angeboten werden – einerseits mit kürzeren Blöcken, in denen grundlegendes Wissen vermittelt wird, andererseits mit frei wählbaren Angeboten ohne Leistungsdruck und Noten wie etwa Musik oder Sport, Fremdsprachen, Programmieren, Kochen und Gärtnern. «Ich hoffe, wir nehmen nicht nur die Digitalisierung aus der Krise mit», sagt Rychner, «sondern auch die Einsicht, dass es wichtig ist, individuell auf die unterschiedlichen Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen einzugehen und ihre Autonomie zu stärken.»