Anita (70) und Paul (83) sitzen gemeinsam am Esstisch, schälen kiloweise Birnen und legen sie in Einmachgläser. Urs (57) sitzt daneben und schlürft seinen Kaffee. Eine Katze streift währenddessen den Anwesenden unter dem Tisch um die Beine und Margrit Knaus (54) rührt in der Küche nebenan in einem riesigen Topf, die Brillengläser vom heissen Dampf schon beschlagen. Das Leben in der Senioren-WG Aemisegg im kleinen Örtchen St. Peterzell SG erinnert mehr an den Alltag in einer grossen Bauernfamilie als an den in einem sterilen Altersheim.
«Ein normales Altersheim wäre für mich auch gar nicht in Frage gekommen, dafür fühle ich mich wirklich noch zu jung», erzählt der ehemalige Bauer Urs im Gespräch mit Blick. «Wenn mein Bruder mir nicht von dieser Möglichkeit hier erzählt hätte, hätte ich vermutlich irgendwie versucht, bei Freunden oder Verwandten unterzukommen – in einem Heim wäre ich vermutlich wirklich in ein Loch gefallen.»
Jeder hilft, wo er kann
Der 57-Jährige ist vor einigen Jahren schwer an Parkinson erkrankt und leidet zudem an den Folgen von zwei Zeckenbissen. Zeitweise sass er sogar im Rollstuhl. Seit nun gut zwölf Monaten lebt er in der ungewöhnlichen Wohngemeinschaft zusammen mit fünf Mitbewohnern. Jeder hat in dem grossen umgebauten Bauernhaus sein eigenes Zimmer, das Badezimmer sowie die Küche teilen sich die über 50-Jährigen. Im Haushalt hilft man sich und jeder tut, was er gerne macht und gut kann.
Für die Pflege von Hochbetagten ist die Herberge nicht ausgerüstet – daher musste Urs zunächst noch darum bibbern, ob er überhaupt einziehen kann. Mittlerweile seien seine Medikamente zum Glück gut eingestellt. Und nun hofft der Sohn aus einer 13-köpfigen Bauernfamilie, dass sich sein Zustand nicht wieder verschlechtert und er nicht doch noch in ein Altersheim umziehen muss. Er erzählt: «Im Sommer habe ich sogar wieder beim Heuen geholfen und im Winter fräse oder spalte ich Holz, damit wir hier heizen können. Unterdessen darf ich auch wieder Auto fahren und chauffiere meine Mitbewohner, die nicht mehr fahren.»
Der Traum von den eigenen vier Wänden
Von diesen Fahrdiensten profitiert auch die einstige Servicekraft Anita. Die 70-Jährige hatte es nicht immer leicht. Nachdem sie lange keine Kinder haben konnte und mit 40 Jahren dann doch noch Mutter wurde, musste sie den frühen Tod ihres Sohnes (†10) bei einem tragischen Unfall verkraften und später eine schwere Rückenoperation über sich ergehen lassen. Als sie schliesslich mit Depressionen zu kämpfen hatte und nach einem Klinikaufenthalt merkte, dass es daheim nicht mehr ging, suchte sie verzweifelt nach einem neuen Anfang – und fand ihn vor rund fünf Jahren in der Alters-WG der Familie Knaus.
«Wenn wir uns hier mal gegenseitig auf die Nerven gehen, dann träume ich wieder von einer eigenen Wohnung. Aber das ist halt einfach nicht mehr realistisch und wir vertragen uns ja auch immer wieder», sagt sie. In der Aemisegg hat sie nun aber wieder eine Aufgabe gefunden. «Wir beherbergen hier ja auch noch Pilger und ich darf jeweils die Betreuung übernehmen», sagt sie. Das bereite ihr, die 35 Jahre im Gastgewerbe gearbeitet habe, viel Freude.
Den Menschen einen Lebenssinn geben
Und genau das sei auch die Idee der Wohngemeinschaft, erklärt Coach Margrit Knaus: «Wir wollen den Leuten das Gefühl geben, gebraucht zu werden.» Zusammen mit ihrem Mann hat die Arbeitsagogin mit pflegerischem Hintergrund und Ausbildung zur Bäuerin vor 24 Jahren das einstige Altersheim mit zugehörigem Landwirtschaftsbetrieb übernommen. «Früher war das ein klassisches Heim. Wir hatten aber damals Mühe, die Plätze zu besetzen, unter anderem weil wir so abgelegen sind. Manche waren auch quasi unfreiwillig hier, weil man sie einfach platziert hat.»
Deswegen habe man sich damals für dieses etwas unkonventionelle Konzept entschieden. Nachdem man zunächst noch skeptisch beäugt worden sei, würden die WG-Zimmer aber unterdessen weggehen wie warme Weggli. Für die Leiterin eine wahre Freude: «Die Senioren-WG ist mein Lebenswerk geworden.»