Auf einen Blick
- Deutschland hat Sicherheitslücken. Schweiz hat besseres Bedrohungsmanagement
- Trotz Bedrohungsmanagement gab es in der Schweiz mehrere tragische Vorfälle
- Schweizer Bedrohungsmanagement in vielen Kantonen implementiert
Deutschlands Warnsysteme haben versagt. Geht es um potenzielle Gefährder, kann sich das Land nicht schützen. Das zeigt die schreckliche Bluttat vom Mittwoch in Aschaffenburg einmal mehr. Messerstecher Enamullah O.* konnte mitten am Tag in einem Park eine Kita-Gruppe angreifen. Er tötete den kleinen Yannis (†2) und einen Mann (†41) – obwohl der afghanische Asylbewerber polizeibekannt und in psychiatrischer Behandlung war und eigentlich schon längst nicht mehr in Deutschland sein sollte.
Im Gespräch mit Blick erklärte Kriminologe Dirk Baier (45), «dass in der Schweiz eine solche Tat nicht passiert wäre.» Der Grund: das hiesige Bedrohungsmanagement, das es in vielen Kantonen gibt und das solche Bluttaten verhindern soll.
Mehrere Vorfälle
Die Aussage sorgte für Fragezeichen. Denn es gibt traurige Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit.
Anfang März 2024 stach ein Teenager (15) in Zürich auf einen orthodoxen Juden (50) mehrmals mit einem Messer ein und verletzte diesen schwer. Laut Mitschülern war der Täter ein Einzelgänger, auch von seiner Familie distanzierte er sich immer mehr. Die Radikalisierung könnte online erfolgt sein. In einem Bekenner-Video schwört der Angreifer der Terrororganisation IS die Treue.
Oder Rentnerin Alice F.*, die am 21. März 2019 den Erstklässler Ilias M.* (†7) – ein Zufallsopfer – auf dem Weg von der Schule nach Hause mit einem Messer tötete. Die Täterin – eine notorische Querulantin – war seit 40 Jahren im Streit mit den Behörden. Sie hatte einen Mord mehrmals angekündigt, auch in Mails an die Medien.
Und da wäre noch der Eritreer, der am 29. Juli 2019 in Frankfurt einen Jungen (†8) vor einen einfahrenden ICE-Zug stiess und so tötete. Nur vier Tage vor der Tat in Deutschland fiel er bereits in der Schweiz auf: Er soll in Zürich seine Nachbarin mit einem Messer bedroht haben. Anschliessend würgte er sie und sperrte sie in ihrem Haus ein. Niemand konnte ihn daran hindern, die nächste Tat auszuführen.
Engmaschigere Kontrolle
Auf Blick-Anfrage am Freitag präzisiert Baier: «Ich behaupte nicht, dass tödliche Messerangriffe in der Schweiz nicht vorkommen können.» Doch: «Personen, die bereits mit Gewalt oder Gewaltandrohungen in Erscheinung getreten sind – was bei den Tätern in Magdeburg und Aschaffenburg der Fall war – werden in der Schweiz durch das Bedrohungsmanagement engmaschiger kontrolliert.» So erhalten Betroffene schneller Hilfe, was potenziell gefährliche Situation entschärft.
Laut Baier liegen in den oben genannten Fällen Besonderheiten vor, die eine Früherkennung erschwerten. Wie etwa das hohe Alter und das weibliche Geschlecht der Basler Messerstecherin.
Fokus auf Prävention
Lange ging man davon aus, dass schwere Gewalttaten plötzlich und unerkennbar auftreten. Doch die Erfahrung zeigte: Oft gab es im Vorfeld Anzeichen. Schliesslich forderte die Politik ein Bedrohungsmanagement mit Fokus auf die Prävention. Hierfür wurden extra Abteilungen geschaffen, oft bei der Polizei. Die Aufgabe: Mögliche Gefahren und potenzielle Gefährder frühzeitig erkennen. Das Ziel: die Entschärfung. So soll eine Tat erst gar nicht umgesetzt werden.
Dazu arbeiten kantonale Stellen zusammen. Neben der Polizei auch Schulbehörden, Heime, Opferhilfen, Sozialämter, RAV, Kesb – und sogar Unternehmen. Heisst: Fällt eine Person besonders auf, informieren diese Stellen die Abteilung Kantonales Bedrohungsmanagement – etwa über interne, geschulte Ansprechpersonen. Die kantonale Stelle erkennt dann, ob die Person bereits anderweitig aufgefallen ist.
Unterschiede zu Deutschland
Obwohl es auch bei uns Lücken im Netz gibt, stehe die Schweiz besser als unser Nachbarland da, so Baier. «Ein solches Bedrohungsmanagement gibt es in Deutschland nicht.» Zwar werden gemäss dem Experten auch dort Gefährdungseinschätzungen vorgenommen und daraus Massnahmen abgeleitet, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Doch in der Schweiz sei die Zusammenarbeit viel enger, verzahnter und professioneller – vor allem innerhalb eines Kantons.
Ähnlich sieht es Manuel Heinemann (35), Kriminologe und Fallanalyst am Institut für Psychologie und Bedrohungsmanagement im deutschen Darmstadt. Der Organisation, die 2011 zusammen mit dem Kanton Solothurn das erste Bedrohungsmanagement der Schweiz entwickelt hat. Heinemann erklärt: «Die Schweiz hat ein viel stärkeres Bewusstsein für die engmaschige Zusammenarbeit.»
Ausserdem setze die Schweiz auf ein durchgängiges Konzept, das für alle Involvierten verpflichtend sei: «Dadurch weiss jeder, welche Aufgabe er hat.»
* Name bekannt