«Damit beginnt nur, wer nichts mehr zu verlieren hat»
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Drogenkranker Peter T.«Damit beginnt nur, wer nichts mehr zu verlieren hat»

Peter T. raucht mehrmals pro Monat im Stadtgarten Chur Freebase
«Nach dem ersten High gleich nochmals eines – das ist das Böse an dieser Droge»

Von Genf bis nach Chur sind sie wieder auf dem Vormarsch: offene Drogenszenen. Im Stadtgarten Chur GR wird vor allem das zu Freebase verarbeitete Kokain sichtbar gedealt und konsumiert. Blick hat mit den Konsumenten gesprochen.
Publiziert: 16.09.2023 um 10:57 Uhr
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Aktualisiert: 16.09.2023 um 11:09 Uhr
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Peter T. spricht über seine Sucht nach Freebase Kokain.
Foto: Linda Käsbohrer
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Sandro ZulianReporter News

Die offenen Drogenszenen sind zurück in der Schweiz. Zwar sind sie bei weitem kein Vergleich zum Zürcher Platzspitz der 90er-Jahre, dennoch ist die Entwicklung alarmierend. Chemisch verarbeitetes Kokain wie Crack oder Freebase wird in Genf, Lausanne VD, Basel und Zürich vermehrt in der Öffentlichkeit geraucht. Eine der bekanntesten Drogenszenen für Freebase ist allerdings die Alpenstadt Chur GR.

Unscheinbar eingebettet zwischen Wohnhäusern in der Nähe der Altstadt liegt der Stadtgarten. Nur wenige Meter nebenan reihen sich Cafés und Restaurants aneinander. Es ist ein einladender Ort, sonnig und gemütlich. Perfekt für einen Kaffee oder ein Picknick. 

«Crack City»

In der Ecke, direkt beim Ausgang zur viel befahrenen Engadinstrasse, ist jemand dem offiziellen Schild der Stadt Chur mit einem Filzstift zu Leibe gerückt. Das Wort Stadtgarten wurde grosszügig durchgestrichen, «Crack City» prangt nun darunter. Doch hier scheinen die Zeiten des Cracks vorbei. Die Droge der Wahl heisst Freebase – mit Ammoniak aufgekochtes Kokain, das geraucht wird.

Die gut 20 Anwesenden, die sich an zwei Tischen und im Schutz eines Regenunterstands niedergelassen haben, mustern den Reporter neugierig, aber auch ein bisschen misstrauisch. «All Right Now» der britischen Rockband Free ertönt aus mitgebrachten Lautsprechern.

Die akustische Berieselung hat etwas Zynisches. Denn frei ist hier kaum jemand. «All right» schon gar nicht. Die Menschen hier sind abhängig. Eine Frau sitzt zusammengekauert auf einer Parkbank. Ihr Blick ist starr auf ihre silberne Pfeife in der Hand gerichtet, sie murmelt: «Es macht dich kaputt, es macht dich kaputt.»

«Was hier geschieht, macht mich traurig»
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Freiwilliger Helfer Ueli (68):«Was hier geschieht, macht mich traurig»

«Eigentlich möchte ich aufhören»

«Man zieht es runter und nach ein paar Sekunden kommt ein wohliges Gefühl. Dann fühlt man sich befreit», sagt Peter T.* (41). Er wohnt nicht in Chur. Zwei bis dreimal pro Monat raucht er aber hier Base. «Am liebsten hätte man nach dem ersten High gleich nochmals eines – das ist das Böse an dieser Droge. Und dann wird man gierig», sagt Peter, während er traurig in die Ferne blickt.

Unter dem Unterstand in der am wenigsten attraktiven Ecke des Parks stehen und sitzen Männer und Frauen im Alter von 20 bis 50 Jahren. «Wenn die anderen noch aus der Kiste kommen, sind es noch mehr», sagt Peter. Manche sind ungepflegt, haben offene Wunden und wirken fahrig, rastlos. Viele halten eine kleine, silberne Pfeife in der Hand. Es wird offen konsumiert und gedealt.

Ein stiller Hilfeschrei

In die Stadt ziehen könne er niemals, sagt Peter: «Die Versuchung wäre zu gross, mein ganzes Geld zu zerbröseln. Eigentlich möchte ich aufhören», sagt er zu Blick. Eine Freundin fragt ihn ungläubig: «Mit allem?» Entschlossen, aber müde entgegnet er: «Ja, mit allem.»

Seine zwei Kinder und seine Eltern wissen nichts von seiner Abhängigkeit. Mit Blick zu sprechen, findet Peter dennoch wichtig. «Mir ist bewusst, was diese Droge anrichtet. Ich bin nicht der Einzige.» Peter spricht ruhig und besonnen, dennoch spürt man an seiner Traurigkeit deutlich, dass die schweren Worte auch ein Schrei nach Hilfe sind.

«Vom Hörensagen lernt man Lügen»

Im Stadtgarten müsse niemand Angst haben. Gewalt gebe es nur, wenn entweder Geld oder Stoff fehle, sagt Remo Petschen (47). Der gebürtige Churer kommt gelegentlich in den Stadtgarten und kennt die Menschen bestens. Er sitzt an einem der Tische, die wie durch ein ungeschriebenes Gesetz der Szene zu gehören scheinen.

Petschen stört sich ab dem zweifelhaften Ruf, den die zahlreichen Medienberichte in der Vergangenheit dem Park und seinen Menschen eingebrockt hat. Das Problem sei, dass man viel über, aber kaum mit den betroffenen Menschen spreche: «Vom Hörensagen lernt man Lügen.»

Auch «Normalos» basen

Ein gepflegter älterer Herr vom Typ Papi, mit Cargo-Hosen und kariertem Hemd, geht zielstrebig in den Park, zieht einige 20-Franken-Noten aus dem Portemonnaie und gesellt sich zu der sitzenden Gruppe, die gerade mit Jassen begonnen hat. Keine 20 Minuten später verschwindet er wieder. «Das ist es eben: Auch Ärzte, Anwälte, Normalos eben, rauchen Base», sagt Petschen. 

Die schon seit Jahrzehnten weitergegebene Binsenwahrheit «man geht nicht in den Stadtgarten» sei überholt und tue den Leuten unrecht. Von der Politik wünscht sich Petschen, dass man auch Süchtigen auf Augenhöhe begegnet und ihnen endlich einen sicheren Raum zum Konsumieren zur Verfügung stellt. Während offene Heroinszenen mittels Konsumräumen weitgehend eingedämmt werden konnten, gibt es für die Inhalation von Drogen bislang noch wenige Räume. Auch in Chur nicht, obwohl das Problem schon eine gefühlte Ewigkeit bekannt ist.

«Die Politik geht mit diesen Leuten um, als wären sie Luft. Das ist eine Sauerei!», sagt Petschen mit bebender Stimme. Lange gehe es hier nicht mehr gut. Im Hintergrund läuft derweil «Bombtrack» von Rage Against The Machine.

* Name geändert

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