Einst ruhten hier die Toten Churs. Sie durften gehen. Anders als die armen Seelen, die heute über den Parkrasen wandeln, rastlos, fahrig, ständig auf der Suche nach Stoff. Und die nur dann innehalten, wenn sie ihre Pfeife zum Mund führen und einen tiefen Zug nehmen, für ein paar Sekunden. Für ein Blitz-High. Nur um danach gleich weiter am Abgrund zu taumeln. Manche fallen rein, finden nie mehr raus. René (55), mit grauem Pferdeschwanz, einem kleinen silbernen Totenkopf am Ohrläppchen und Converse-Sneakern an den Füssen, kennt das alles. Er ist süchtig. Wir treffen ihn an einem August-Nachmittag auf einer Parkbank. Gestern hat er erfahren, dass er sehr wahrscheinlich Parkinson hat. «Das macht mir Angst.» Beim Erzählen verliert er immer mal wieder den Faden, trotzdem will er über die Situation sprechen, «sonst geht nie etwas». René gehört zur Szene im Churer Stadtgarten, zu einer der letzten offenen Drogenszene der Schweiz.
«Dieses Jahr ist es heftig mit den Toten», sagt er. Vier Drögeler starben, an einer Überdosis, an den Folgen ihrer Sucht. Verdorrte Blumen, Kerzen und Engel-Figuren, die ihre Gefährten hier für sie niedergelegt haben, erinnern an sie. René kannte alle: «Pedro, Victoria ...», weiter kommt er nicht.
Versteckt hinter dicken Mauern
Anfang Jahr schickte René der «Südostschweiz» einen offenen Brief. Ein Hilferuf, gerichtet an die Behörden: «Lasst uns nicht mehr verwahrlosen.» Der Brief offenbarte der breiten Bündner Öffentlichkeit einen schon lange schwelenden Konflikt. Abgeschnitten von der Gesellschaft, versteckt hinter dicken Mauern des Churer Stadtgartens verelenden Menschen, und der Staat schaut zu. Seit Jahren rufen Süchtige, Sozialarbeiter und mittlerweile auch die Stadt nach Massnahmen, um die offene Drogenszene aufzulösen. Allen voran fordern sie einen Konsumraum. Doch der Kanton, der zuständig ist, hört nur mit einem Ohr hin. Im Juli hat die Bündner Regierung zwar Massnahmen beschlossen. Aber die Kernforderung bleibt unerfüllt: Kein Fixerstübli. Was ist bloss in Graubünden los? Warum setzt man in Chur nicht das um, was sich in Städten wie Zürich, Bern oder Basel seit den Neunzigerjahren bewährt?
Im Stadtgarten sagt René: «Weil wir Drögeler sind, wir sind denen da oben egal.» Er schweigt kurz, schaut hinüber zu den Alphornbläsern, die auf dem Parkrasen stehen und «Lueget vo Berg und Tal» spielen. Gleich daneben im langen Schatten der grossen Bäume breitet sich das Elend aus: 25 verwahrloste Süchtige, an manchen Tagen sind es viermal so viele. Die Churer Szene entstand in den Neunzigern. Nach der Schliessung des Letten 1995, der letzten offenen Drogenszene in Zürich. Plötzlich fand man im beschaulichen Städtchen Chur Drogentote, Spritzen lagen herum, die Beschaffungskriminalität nahm zu. Damals erkannte der Kanton das Problem, finanzierte Einrichtungen wie eine Notschlafstelle, eine Gassenküche und eine niederschwellige Tagesstruktur. Es wurde ruhiger um die Szene.
Situation verschärft sich
Seit ein paar Jahren spitzt sich die Lage aber wieder zu. Weil auch vermehrt Jüngere, in den Zwanzigern, dazustossen – und wegen einer neueren Konsumform: dem «Basen». Freebase ist ein Kokain-Ammoniak-Gemisch, fast alle im Stadtgarten füllen damit ihre Pfeifen. Weil der Kanton nicht in die Gänge kommt, finanziert die Stadt seit Frühling 2020 Streetworker. Der zuständige Churer SP-Stadtrat Patrik Degiacomi sagt: «Wir mussten etwas tun.» Der Kanton sei mit seinen Massnahmen auf halbem Weg stehen geblieben.
Der Stoff fürs «Basen» ist in rauen Mengen verfügbar, kommt von Italien her über die Grenze nach Graubünden, Chur ist ein Zwischenhalt, bevors weiter nach Zürich und in andere Städte geht. Ein «Steinchen», ein Rausch, kostet nur zehn Franken, fährt blitzschnell ein – und wieder aus. Anders als Heroin macht der Stoff nicht körperlich abhängig, aber psychisch. Auch René, seit 21 Jahren heroinfrei, heute im Methadonprogramm, raucht Freebase. Er sagt: «Wenn ich hier bin, brennt mir das letzte Geld fast ein Loch in die Hose, weil ich so das Reissen danach habe.» So geht es allen. Gefährlich dabei: Das Zeug macht aggressiv. So aggressiv, dass noch am gleichen Nachmittag die Polizei auf dem Platz steht, weil ein junger Süchtiger ausgeflippt ist und auf einen anderen losgeht. So geht das ständig, sagt René. Vor allem wegen der Jungen. «So kaputt wie jetzt war die Szene noch nie.»
Werner Erb macht das Sorgen. Erb (71), mit langem weissem Pferdeschwanz, Türkisstein-Ketten um den Hals, unterrichtet im Stadtgarten Alphorn, will so die Bevölkerung und die Süchtigen in Kontakt bringen. Werner Erb ist auch Sozialarbeiter und seit 1998 so etwas wie der Übervater für die vernachlässigten Menschen hier. Mittwochnachmittags stellt er im Stadtgarten seinen Stand auf, manchmal mit Grill, meist mit Kaffee und Kuchen. Erb sagt: «Es ist ein sinnloser Teufelskreis.» Durch das «Basen» kreist er schneller als früher. Der Entzug setzt so rasch ein, dass einige ständig betteln oder in den Warenhäusern stehlen oder bei einem Dealer Schulden machen. Dann gibt es Schlägereien, weil der Konsument nicht flüssig ist. Dazwischen fährt die Kantonspolizei immer mal wieder für eine Razzia im Stadtgarten ein, filzt Süchtige und sperrt sie eine Zeit lang ein. «Das bringt doch nichts. Ein cheiben Zügs», sagt Erb.
Deshalb kämpft auch er seit Jahren für ein Fixerstübli. Schreibt Briefe, auch an den Regierungsrat. Die Leute könnten im Schutze eines solchen Raums konsumieren und besseren Zugang zu Hilfe erhalten, sagt Erb. Und man hätte sie im Blick: «Wir müssten nicht immer Angst haben, dass einer an einer Überdosis auf einem öffentlichen WC stirbt.»
Warum schaut man seit so vielen Jahren weg?
Werner Erb sagt: «In den Köpfen dieser Leute ist ein Drogensüchtiger und Randständiger selber schuld. Der soll nur wollen, mit Willen käme er los. Das ist falsch, sie sind krank.»
Langsam kommt etwas in Gang
Langsam geht nun aber etwas. Der Kanton gab eine Bedarfsabklärung in Auftrag. Die Schweizerische Koordinations- und Fachstelle Sucht (Infodrog) befragte 64 Betroffene und 56 Fachpersonen, die Ergebnisse liegen seit einem Jahr vor. Infodrog empfiehlt in ihrem Bericht: betreutes Wohnen für Süchtige, aufsuchende Sozialarbeit, ein betreuter Konsumraum.
Die Kantonsregierung will jetzt die wichtigsten Empfehlungen zwar umsetzen, plus eine zentrale Kontakt- und Anlaufstelle schaffen – aber ohne Fixerstübli. Das frustriert in Chur alle, die man fragt. Der Ärger richtet sich vor allem gegen einen Mann: Marcus Caduff.
Der zuständige Bündner CVP-Regierungsrat beurteilt die Lage anders als die Churer. Er beruft sich auf eine zweite Abklärung, bei der sechs Fachleute befragt wurden. Caduff sagt: «Die im Rahmen unserer Abklärungen befragten Fachpersonen konnten keine Verschlechterung der Situation in den vergangenen Jahren feststellen.» Die Kriminalität habe über längere Dauer gesehen nicht zugenommen, und es bestehe keine Gefahr für die Öffentlichkeit. Man wolle mit dem Konsumraum zuwarten, die beschlossenen Massnahmen seien aus Expertensicht dringlicher. Was er auch sagt: «Es ist eine Kosten-Nutzen-Abwägung.» Ein solcher Raum kostet laut Infodrog-Bericht zwischen 430'000 und 610'000 Franken jährlich.
Franziska Eckmann von der Fachstelle Infodrog, die die erste Abklärung durchführte, betont aber: «Ein zentral gelegener Konsumraum würde in Chur den öffentlichen Raum entlasten.» Es sei immer ein Zusammenwirken von verschiedenen Massnahmen, die eine solche Situation verbessere.
Die grosse Sorge: Der bevorstehende Winter
Nun steht der Winter bevor, und der Druck auf die Süchtigen nimmt zu. Der Churer Stadtrat Patrik Degiacomi sagt: «Es ist wichtig, dass der Kanton jetzt rasch handelt. Es ist zu wenig Dynamik drin.» Der Stadtrat prüft nun, ob die Stadt selber demnächst einen Konsumraum einrichtet.
Die bitterkalten Monate beschäftigen auch René, im offenen Brief in der «Südostschweiz» schrieb er: «Miar Khurer Drögeler früren üs sit 40 Jahren im Winter der Arsch ab. Diejenigen, die fixen, treffen bei Kälte die Venen nicht.» Und so suchen die Süchtigen Schutz in Tiefgaragen, in öffentlichen WCs. Und sterben vielleicht an einer Überdosis. Weitere Tote, zu deren Ehren der Sozialarbeiter Erb im Stadtgarten jeden Monat auf seinem Alphorn ein «Abendruh» anspielt.
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