Ich führe seit einigen Jahren für die Zürcher Volkshochschule sogenannte Tatort-Rundgänge in der Zürcher Innenstadt durch. Die letzte Station bildet jeweils der Platzspitz-Park beim Landesmuseum. Viele Teilnehmer waren noch nicht geboren oder kleine Kinder, als zwischen 1986 und 1992 auf dem Needle Park, wie er bis in die USA Schlagzeilen machte, in aller Öffentlichkeit Heroin gefixt und geraubt wurde und Menschen starben.
In dieser Zeit war ich beinahe täglich an diesem stinkenden, versifften Ort, meist in Begleitung meines Kollegen, dem Blick-Fotografen Philippe Rossier. Oft dann, wenn wieder ein Verbrechen geschehen, eine Leiche entdeckt worden war.
Jeden Tag wurden Tausende von Spritzen getauscht
Allein im Jahr 1991 liessen 21 Menschen in der Drogenhölle das Leben. Täglich bis zu 25-mal musste die Sanität hinter den Zürcher HB ausrücken, Tausende von gebrauchten Spritzen wurden – behördlich erlaubt – gegen saubere umgetauscht. Über 2000 Fixer, auch aus Nachbarländern, bevölkerten den Drogenumschlagplatz.
Ein Teil der Fixer starb an einer Überdosis, andere an Krankheiten wie Aids. Oder sie wurden Opfer eines Tötungsdeliktes. Meistens ging es um Heroin, etwa, weil ein Dealer verdreckte oder mit Backpulver gestreckte Ware vertickt hatte. Fixer liessen ihr Leben, weil ihnen andere Stoff oder Geld neidig waren. Oder mordeten, um sich mit dem geraubten Geld Stoff zu beschaffen. Süchtige Frauen verdienten sich das Geld auf dem nahen Drogenstrich, dem berüchtigten Sihlquai.
Ein Primarlehrer führte seine Klasse in den Drogensumpf
Der Platzspitz war nicht nur Anziehungsort für Süchtige. An einem Mittwochnachmittag – ich konnte es kaum glauben – bevölkerte eine Primarschulklasse aus der Innerschweiz den Park. Die Schüler assen ihr Picknick seelenruhig gleich neben einem Fixerpärchen, das sich gegenseitig den Stoff mit einer Nadel in den Mund spritzte. Ratten huschten über Abfallberge. Auf meine Frage, weshalb er ausgerechnet diesen Platz ausgesucht hatte, meinte der Lehrer, beinahe beleidigt. «Damit sie mit eigenen Augen sehen, dass man das nicht tut.» Aha!
Die Polizei – ohne Rückendeckung der Politik – stand dem ganzen Problem machtlos gegenüber. Bei Verhaftungen wurden Beamte vor allem von ausländischen Dealern angegriffen und verletzt. «Innert eines Jahres wurde ich siebenmal spitalreif geschlagen», erzählte Fahnder Bruno und stellte mir ein Foto seines malträtierten Gesichtes zur Verfügung.
Fixer ertränkten ihren Kollegen
Einige Drögeler liessen ihr Leben, weil sie zugedröhnt in die nahe Limmat oder die Sihl, die den Platzspitz umfliessen, gefallen waren. In mindestens einem Fall war der Sturz ins Wasser jedoch nicht freiwillig.
1989, an einem Julitag, erhielt ich den Anruf eines Szene-Insiders. Ein Fixer sei gefesselt in die Limmat geworfen worden. Gleichentags informierte die furchtlose Bezirksanwältin Helene Wormser und fand kaum Worte. «Am Platzspitz wurde bisher geschlagen, gestochen, geschossen. Doch noch nie wurde ein Mensch wie eine Katze ertränkt.»
Behörden geben nur äusserst selten ein Leichenbild frei. Die Untersuchungsrichterin tat es. Hände und Füsse des Toten waren mit Klebeband zusammengebunden. Zudem war der Drogenabhängige Reto S.* (†23) geknebelt. Er hatte gemäss der Gerichtsmedizin noch gelebt, als er ins Wasser gekippt worden war.
«Die Nerven liegen blank»
Vier Tage später wurden ein Kurierfahrer (19) und ein Maurergeselle (23) verhaftet. Das Duo war der Polizei als Drogenkonsumenten bekannt. Sowohl die Mörder, als auch ihr Opfer hatten auf dem Platzspitz gehaust. Gemäss Bruno Kistler, dem damaligen Medienchef der Zürcher Stadtpolizei, kam der entscheidende Hinweis aus der Drogenszene.
«Eine solch grausame Tat wird auch bei uns nicht toleriert», sagte mir ein Bekannter des Opfers. «Die Nerven liegen blank.»
Einige Wochen später konnte ich mit den Eltern des geständigen 19-Jährigen sprechen. «Unser Sohn ist kein Mörder. Ich glaube, dass ihn jemand angestiftet hat», vermutete die Mutter. Dafür gab es jedoch keinerlei Anhaltspunkte.
«Wir wollten ihn nur abkühlen, dass er sich beruhigt»
Zwei Jahre nach ihrer unfassbaren Tat wurde das Duo wegen Mordes zu elfeinhalb und zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Die beiden Fixer hatten beim Prozess vor dem Zürcher Obergericht ihrem Opfer die Schuld zugeschoben.
Der Kurierfahrer behauptete, er sei aus Versehen über das Schoggistängeli von Reto gestolpert. «Dieser ist deswegen ausgeflippt. Er würgte mich so, dass ich beinahe erstickt wäre.»
Darauf habe sich sein Kollege auf Reto gestürzt und ihn Richtung Fluss geschleppt. «Wir wollten ihm bloss ein Bad verpassen, damit er sich abkühlt und wieder beruhigt», so der Kurierfahrer weiter. «Ich weiss nur noch, wie wir ihn zum Ufer trugen und irgendwie unter dem Geländer durchbrachten.»
Erst 1995 wurde die offene Drogenszene aufgelöst
Im Februar 1992 wurde nach einem langen Hin und Her der Platzspitz geräumt. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Im alten Bahnhof Letten, wohin sich die Abhängigen nun verschoben hatten, ging das Sterben unvermindert weiter.
1995 – viel zu spät – wurde die offene Drogenszene endgültig geschlossen. In dieser Zeit starben in der Schweiz jährlich bis zu 400 Drogenabhängige. Ein Grossteil auf dem Platzspitz oder am Letten.
*Name geändert
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