Die Chancen stehen gut, dass dies gerade ein Wendepunkt der Geschichte ist. Bei vielen Grossereignissen war es genauso: der Fall der Berliner Mauer, 9/11, der Arabische Frühling – keiner sah sie kommen, plötzlich waren sie da, niemand konnte sie ungeschehen machen. Wie nun die Anti-Rassismus-Proteste.
Die Augen verbunden, den Strick um den Hals, wartet Sklavenhändler Edward Colston (1636–1721) auf seine Hinrichtung. Die Menge zerrt, die Statue fällt. Wie Rumpelstilzchen hüpfen sie auf dem gestürzten Denkmal herum. Mit echtem Hass, Hunderte Jahre später. Der Wohltäter der britischen Stadt Bristol – 84 000 verschleppte Menschen gehen auf sein Konto – wird im Hafen versenkt.
Statuen ohne Kopf oder eingekleidet
Christoph Kolumbus (1451–1506) erging es diese Woche in Boston (USA) nicht besser. Der Entdecker Amerikas verlor seinen Kopf. Und Winston Churchill (1874–1965) hat derweil Bretter vor dem Kopf: Um die Statue des früheren britischen Premiers zu schützen, hat London sie vernagelt. Churchill kämpfte zwar heldenhaft gegen Hitler, glaubte aber an die Überlegenheit des weissen Mannes und war ein Verfechter des Kolonialismus.
Der Kinoklassiker «Vom Winde verweht» von 1939 wurde bis auf weiteres aus dem Programm genommen. Wegen rassistischer Vorurteile und problematischer Darstellung der Sklaverei, so der Anbieter HBO.
In Bern heisst die Colonial Bar neu einfach nur noch Bar. Weil Aktivisten Druck machten, änderte der Betreiber den Namen.
Und Migros nahm Schokoküsse der Firma Dubler aus dem Sortiment, die zwanghaft am Markennamen «Mohrenkopf» festhält.
Vielleicht bilden diese Meldungen der letzten Tage nur die Unberechenbarkeit der Welt ab – ein Strohfeuer, nachdem in den USA ein weisser Polizist den Afroamerikaner George Floyd tötete.
Es könnte aber auch eine Wende sein. Ein Anfang. Ein neuer Bildersturm ...
Erinnerung an frühere Ereignisse
Vor 500 Jahren gingen die Reformierten mit Statuen und Bildern der Konkurrenz ähnlich um – sie köpften, kratzten und zerschlugen alles, wo Christi und die Heiligen abgebildet waren. Auch die politischen Bilderstürmer Jahre später langten kräftig zu: Nazis verbrannten Bücher, Alliierte sprengten Hakenkreuze, die Taliban vernichteten buddhistische Bildwerke, Postkommunisten stürzten Lenin-Büsten, US-Soldaten rissen Saddam Hussein vom Sockel.
«Wir erleben gerade einen starken Kulturwechsel, mit ähnlichen Auswirkungen wie ein Bildersturm», sagt Bernd Nicolai, Professor für Kunstgeschichte an der Uni Bern. «Berechtigte Ansprüche von Minderheiten führen immer wieder zu Debatten, in denen oft die Interessen von Einzelgruppen in den Vordergrund gestellt werden.»
Bangen um gesamtgesellschaftliche Perspektive
Die Entwicklung gehe einher mit einer Form von politischer Korrektheit, die zu Zensuraufrufen führe, aber auch von Selbstzensur begleitet sei. Nicolai bangt um die gesamtgesellschaftliche Perspektive.
«Die Grundprobleme von Rassismus, Kolonialismus und wirtschaftlicher Ungleichheit sind durch politische Korrektheit ja nicht gelöst», so der Deutsche. «Es handelt sich in erster Linie um Symbolpolitik.» Wirksam wären nur gesellschaftliche Reformen.
Man dürfe Denkmäler entfernen, sollte sie aber nicht zerstören. Kommentierende Tafeln oder künstlerische Installationen, welche die Werke begleiten oder sogar widerlegen, hält der Professor für angemessener.
Nur, wer braucht überhaupt Denkmäler?
Statuen entfernt für Kunstprojekt
Nach 13 Jahren tüfteln präsentierte Jan Morgenthaler seine Antwort. Der Künstler, später landesweit bekannt für den Zürcher Hafenkran, holte 1999 die hohen Herren von ihren Sockeln: Er verbannte den Reformator Huldrych Zwingli (1484–1531), den Pädagogen Heinrich Pestalozzi (1746–1827), den Pionier Alfred Escher (1819–1882) und den Wüterich Hans Waldmann (1435–1489) ins Exil. Manche dankten es ihm mit einer Morddrohung. «Die Leute meinten, ich würde Zwinglis Grab schänden.» Auf den verwaisten Sockeln durfte sich das Volk eine Zeit lang selber inszenieren. Die Aktion war ein Spiel mit der Sichtbarkeit. «Denkmäler sieht man ja erst, wenn sie nicht mehr da sind», so Morgenthaler.
Seine Forderung damals wie heute: Jede Generation solle das Recht haben, sich im öffentlichen Raum darstellen zu können. «Ein Denkmal hat keinen Anspruch auf Ewigkeit, es geht ja nicht darum, dass möglichst viel Gerümpel in der Stadt herumsteht.»
Naturgemäss sehen Traditionalisten die Sache anders: Für sie muss es Dinge geben, die über den Tod hinaus gelten. Ihnen ist Morgenthalers flüchtige Kunst so willkommen wie eine Virus-Pandemie.
Rechte melden sich zu Wort
Die deutsche AfD-Frau Beatrix von Storch ätzte über einen «neuen Totalitarismus mit Sprach- und Gedankenpolizei». Der italienische Lega-Anführer Matteo Salvini, berüchtigt für seine rassistischen Töne, schwadronierte über den Begriff «Mohrenkopf».
Wer auf der Verwendung dieser altertümlichen Begrifflichkeit besteht, macht sich des Rassismus verdächtig.
Alfred Escher war ein grosser Schweizer. Er erfand Kreditanstalt, ETH und SBB. Dafür steht sein Denkmal in Zürich. Doch seine Familie hielt Sklaven. Zwar weit weg auf Kuba, aber auch der Pionier selber profitierte davon. Nun hat sein Denkmal dafür die ersten Kratzer.
Denkmäler stürzen als Ur-Idee
Der öffentliche Raum ist ein Kampfplatz. Denkmäler zu stürzen, sei die ur-revolutionärste Idee überhaupt, meint der Künstler Morgenthaler: «Wir haben damals zumindest etwas die Schrauben gelockert.»
Escher steht weiter unverrückbar vor dem Hauptbahnhof. Jedenfalls stand er dort gestern noch.