Es begann mit dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd (†46). Und verbreitete sich innert Tagen über die Welt: die Proteste gegen Rassismus. Auch in der Schweiz gehen die Menschen auf die Strasse, rund zehntausend waren es am Dienstag allein in Genf. «Schweigen tötet» oder «Ich bin schwarz, ich existiere» las man auf den Plakaten an der Black-Lives-Matter-Kundgebung. Sie zeigen: Rassismus ist auch in der Schweiz allgegenwärtig. Schwarze werden von der Polizei angehalten, weil sie der Dealerei oder Prostitution verdächtigt werden. Sie haben Mühe, eine Stelle zu finden. Und sie müssen sich ständig Bemerkungen über ihr Aussehen anhören. Insbesondere Frauen.
Wir wollen mehr erfahren und fragen: Was heisst es in der Schweiz, eine schwarze Frau zu sein? Olga Madjinodji (32), Mandy Abou Shoak (30) und Brandy Butler (40) sprechen hier über ihre Erfahrungen. Das erfordert leider immer noch Mut. Viele angefragte Frauen sagten ab. Sie fürchten sich vor Anfeindungen – und Gewalt.
Sie sprechen über dieses Gefühl, nicht sich selbst zu sein. Sich überangepasst zu benehmen, weil sie wissen, dass an ihrem Verhalten alle Schwarzen gemessen werden.
In der Schweiz gibt es wenig Forschung über Schwarze – auch zu Rassismus nicht. Statistiken sucht man vergeblich. Hautfarbe wird nicht erhoben, wo und inwiefern Schwarze diskriminiert werden, kann man fast nicht nachweisen. Bekannt ist, dass seit den 1980er-Jahren mit der Migration aus den ehemaligen Kolonialländern die Präsenz von Schwarzen zugenommen hat. Biel gehört zu jenen Städten mit der grössten afrikanischen Diaspora in der Schweiz. Aber längst nicht alle Schwarzen stammen aus Afrika. Viele haben keine Migrationserfahrung, sie sind hier geboren. Und jene, die in die Schweiz gekommen sind, wurden erst hier zu Schwarzen gemacht. Wie Olga Madjinodji, die mit ihrer Familie aus dem Tschad in die Schweiz flüchtete. «Ich habe mir davor nie Gedanken über meine Hautfarbe gemacht.»
Eine Studie des Bundes zum Zusammenleben in der Schweiz (ZidS) zeigt: Drei Viertel der Schweizerinnen und Schweizer glauben, dass Schwarze bei der Stellen- und Wohnungssuche Diskriminierung erfahren. Gleichzeitig ergibt sie aber auch: Eine Mehrheit findet, dass Rassismus gegenüber Schwarzen in der Schweiz kein grosses Problem ist. Ein Paradox.
Rassismus gegen Schwarze Menschen stammt aus der Kolonialzeit
Die Kulturwissenschaftlerin Jovita dos Santos Pinto (36) erklärt es so: «Rassismus gegen Schwarze Menschen ist so in der Schweizer Kultur verankert, dass er den meisten nicht auffällt.» Viele sehen schwarze Frauen nur als Schönheiten oder als Sexobjekt oder machen auf der Strasse einen weiten Bogen um einem schwarzen Mann, weil sie sich fürchten. Da klingen Stereotypen an, die aus der Kolonialzeit stammen. «Viele glauben, dass die Schweiz nichts mit Kolonialismus und Versklavung zu tun hatte, das ist falsch», sagt dos Santos Pinto.
Belege gibt es genug. Mittlerweile weiss man, dass Schweizer Gründerväter am Sklavenhandel verdienten. Die SBB, die ETH Zürich, die Credit Suisse und die Swiss Life – dieses Erbe des Zürcher Nationalhelden Alfred Escher beruht auf Erträgen aus einer Sklavenplantage. 1822 waren auf einer kubanischen Kaffeeplantage der Familie Escher 82 Feld- und 5 Haussklaven beschäftigt. Ein vergleichbarer Besitz in Brasilien Mitte des 19. Jahrhunderts war zwischen 300'000 und 500'000 Franken wert – zwischen vier und sechs Millionen Franken wären dies heute.
In Basel beteiligten sich im 18. Jahrhundert drei Generationen der Firma Burckhardt an insgesamt 21 Sklavenfahrten.
In Neuenburg vermachte der Bankier David de Pury (1709–1786) seiner Heimatstadt ein Vermögen – das er unter anderem durch Sklavenhandel am portugiesischen Hof verdiente. Und der berühmte Neuenburger Zoologe und Gletscherforscher Louis Agassiz (1807–1873) verbreitete eigene Rassentheorien. Noch immer trägt ein Berggipfel seinen Namen.
Hinzu kommen die über 100 Völkerschauen. Bis 1939 Menschen stellte die Schweiz Menschen aus den Kolonialländern als Wilde zur Schau. Ein gnadenloses Geschäft: Als 1822 «Feuerländer» aus Chile starben, ging die Ausstellung mit den Überlebenden der Gruppe weiter – zum reduzierten Preis. Der «Menschenzoo» gehörte beim Zirkus Knie bis in die 1960er-Jahre zum Programm.
Schwarze Menschen als wilde Idioten dargestellt
All das schlug sich in unserer Werbung, in Kinderbüchern, in der Schule nieder. Kasperli besuchte Schwarze in Afrika, die dümmer waren als er. In den Geschichten von Globi tauchen Schwarze auch nur als wilde Idioten auf. Und die nationale Märchentante Trudi Gerster erzählte vom jungen Afrikaner Wumbo-Wumbo unter dem Titel «Vom dumme N****». Später fügte sie den Satz hinzu: «Nicht, dass ihr glaubt, dass alle N****-Kinder dumm sind. Manche werden sogar Professor.» Und wer kennt das «Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann?» aus Kindertagen nicht?
Wie es sich anfühlte, als Schwarzer durch die Schweizer Idylle der Fünfzigerjahre zu laufen, vermittelt der berühmte afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin (1924–1987). Er arbeitete in Leukerbad VS an einem Buch. Einige Dorfbewohner fürchteten, er würde Holz oder Dorfschönheiten stehlen. Sobald er sein Chalet verliess, riefen ihm die Kinder das N-Wort hinterher, wie er im Essay «Stranger in the Village» schreibt: Diese Kinder «haben keine Ahnung, welche Echos dieser Sound in mir hervorruft».
Heute ist das N-Wort fast ganz verschwunden. Schwarze Menschen müssen trotzdem immer als Erstes erklären, woher sie «ursprünglich» kommen. Und ständig greifen Weisse auf ihre Körper zu. «Einem weissen Professor würde man in der Kantine nie einfach in die Haare fassen, einer schwarzen wissenschaftlichen Mitarbeiterin wie mir schon», sagt dos Santos Pinto.
Viele haben prekäre Jobs
So unterschiedlich die Geschichte und Hintergründe schwarzer Menschen in der Schweiz ist, es gibt ein Strukturproblem. Viele überqualifizierte Schwarze haben prekäre Jobs: im Detailhandel, in der Pflege, in der Reinigungsbranche oder auf dem Bau. Die Corona-Krise habe das gezeigt, sagt dos Santos Pinto. «Schwarze haben nicht die gleichen Chancen.»
Vielleicht ändert die Black-Lives-Matters-Bewegung das langsam. Nun verschwinden die Dubler-Schokoküsse aus den Migros-Regalen. Eine Petition fordert, dass die Neuenburger Statue von David de Pury entfernt wird, ein Kolonialismusforscher stellt jene von Alfred Escher beim Zürcher Hauptbahnhof in Frage. Und auf den aktuellen Kundgebungen ergreifen in vielen Städten hauptsächlich Schwarze das Mikrofon. «Diese Bilder sind neu», sagt dos Santos Pinto. «Bis vor kurzem sprachen meist weisse im Namen von Schwarzen Menschen, oder gaben ihnen das Wort.»