Wie kann ein kleines Dorf gegen Overtourism vorgehen, ohne dem Tourismus zu schaden? Mit diesem Dilemma sieht sich die Berner Gemeinde Lauterbrunnen konfrontiert. Wie Gemeindepräsident Karl Näpflin in einem Bericht von «Der Bund» zitiert wird, steht nun eine Besuchergebühr für Tagestouristen à la Venedig im Raum. Unter anderem könnte, laut Medienberichten, ein Talpass eingeführt werden, den Gäste über das Smartphone lösen. Die Gebühr in Höhe von 5 bis 10 Franken gälte nur für Besucher, die mit dem Auto anreisen. Hotelgäste und Nutzer des öffentlichen Verkehrs blieben verschont. Doch was halten die Einwohner von diesem Plan? Blick hat gestern vor Ort nachgefragt.
Es ist ein Mittwoch, Mitte Mai. Die Tourismus-Hochsaison in Lauterbrunnen BE hat noch nicht begonnen. Dennoch herrscht an der Hauptstrasse durch das kleine Dorf reger Betrieb. Anwohnende für eine Strassenumfrage findet man kaum, denn 90 Prozent der Passanten sind Touristen.
Tourismus-Präsident: «Die Idee ist nicht umsetzbar»
Doch wer sucht, der findet. Die mehrheitliche Meinung der befragten Anwohnenden entspricht in etwa der von Martina (23): «Die Idee klingt grundsätzlich nicht schlecht, aber keine Ahnung, wie das umgesetzt werden soll.» Wie? Das weiss Raffael Litzler (48), Präsident Lauterbrunnen Tourismus. Nämlich gar nicht. «Die Idee ist nicht umsetzbar, darüber müssen wir gar nicht diskutieren.»
«Wir dürfen die Kantonsstrasse nach Lauterbrunnen ohne Genehmigung weder absperren noch eine Maut erheben», so Litzler. Doch ohne eine solche Barriere sei der Plan sinnlos. Stattdessen plädiert Litzler für eine Eintrittsgebühr für den Staubbachfall, das Fotosujet Lauterbrunnens – ähnlich wie beim weltberühmten Steg in Iseltwald BE.
Der Bericht über eine potenzielle Eintrittsgebühr nach Lauterbrunnen wurde von vielen Medien aufgegriffen. Entsprechend vorsichtig reagiert Gemeindepräsident Näpflin auf eine Blick-Anfrage. Ein Interview will er nicht geben, krebst im Gespräch aber von früheren Aussagen zurück. Der Talpass für Tagesausflügler sei nur eine von mehreren Möglichkeiten, die angeschaut werden. Doch aus diesem kurzen Gespräch wird klar: Im ganzen Dorf ist man sich einig, dass etwas passieren muss.
Lauterbrunnens Anwohner haben genug
Manuela (50) wohnt und arbeitet in Lauterbrunnen. «Früher waren die Strassen im Mai ausgestorben. Doch seit zwei Jahren ist es verheerend.» Sie könne im Sommer nicht mal mehr mit ihrem Hund durchs Dorf spazieren. «Man muss sich regelrecht durchboxen.» Dazu kommen die steigenden Mieten, da immer mehr Wohnungen zu halbjährig leerstehenden Airbnbs umgebaut werden. «Eine Freundin ist weggezogen, weil sie es nicht mehr ausgehalten hat.» Doch nicht nur Anwohnende flüchten. «Langjährige Dauergäste kommen nicht mehr, weil ihnen dieser Trubel mittlerweile zu viel geworden ist.»
Auch Martina (23) arbeitet im hiesigen Tourismus: «Es ist zu viel. Wir haben einfach keinen Platz mehr.» Das Argument, dass kleine Dörfer wie Lauterbrunnen nur dank des Tourismus überleben, kann sie nicht mehr hören. «Ja, wir leben davon. Aber Tagestouristen kommen für zwei Stunden, machen ein paar Bilder und gehen wieder. Davon profitieren wir nicht, haben aber den Ärger und Abfall.» Insbesondere störe sie, wie unhöflich viele von ihnen seien. «Sie gehen in fremde Gärten, schmeissen ihren Müll auf die Strasse und spielen auf dem Friedhof Fussball!»
Mark (39) ist eigentlich selbst Tourist in Lauterbrunnen. Er ist aber hier aufgewachsen und besucht regelmässig seine Familie. Doch die aktuelle Entwicklung findet er beunruhigend: «Es kommen immer mehr und mehr. So geht das nicht weiter, wir müssen etwas machen. Lauterbrunnen ist auf diese Art von Tourismus nicht vorbereitet.»