Nur wenige Wochen noch. Im besten Fall ein paar weitere Monate. Aber das liegt nicht mehr in ihren Händen, sondern in jenen der Schlichtungsstelle, die vielleicht einen Aufschub gewährt. Danach ist Schluss. Dann muss Familie Schlemmer-Catino ihre 4,5-Zimmer-Wohnung verlassen. Vor drei Monaten erhielt die vierköpfige Familie die Kündigung. Grund: Der Vermieter meldete Eigenbedarf an.
So weit, so korrekt. Nur: Die Familie lebt in Wengen, einem malerischen Ort in der Gemeinde Lauterbrunnen im Berner Oberland. Ein Idyll, umsäumt von Bergen. Schneebedeckte Gipfel, steile Felswände, der atemberaubende Staubbachfall. All das zieht Touristen an – und hat Auswirkungen. Vor allem für die Einheimischen.
Kaum Wohnungen und hohe Mietzinse
Die Mieten und Immobilienpreise: überdurchschnittlich hoch. Leere Wohnungen: kaum vorhanden. Schlemmer-Catinos leben seit 22 Jahren hier im Ort. Seit der Kündigung suchen sie mit Hochdruck eine neue Bleibe. Die Familie hat im Tourismusbüro angefragt, bei der Gemeinde. Hat im Internet und im Dorf Inserate veröffentlicht. Bisher ohne Erfolg. Im gemütlichen Heim der Familie ist plötzlich nur noch Raum für Angst und Ungewissheit.
«Im schlimmsten Fall müssen wir hier wegziehen», sagt Mutter Cristina (49). Sie arbeitet als medizinische Sekretärin im Dorf. Der Vater, Davide (51), ist Hauswart in einem örtlichen Ferienheim. Die Kinder sind hier aufgewachsen, die Tochter (13) besucht die 7. Klasse, der Sohn (17) das dritte Lehrjahr. Alle haben sie Freunde, Bekannte und Hobbys hier.
Die Region lebt vom Tourismus, ohne Gäste geht es nicht. Doch die Gemeinde Lauterbrunnen platzt aus allen Nähten. Campingplätze, Gruppenunterkünfte, Hotels und Ferienwohnungen sind regelmässig ausgebucht. Im vergangenen Jahr verzeichneten die Hotels gemäss Gemeinde fast 460’000 Logiernächte. Die Ferienwohnungen knapp 200’000. Klar, dass geschäftstüchtige Einheimische hier ihre Chancen wittern.
Einheimische und Angestellte sind Leidtragende
Sie vermieten kurzfristig Zweitwohnungen oder Wohnungen, die nicht für den Eigenbedarf genutzt werden. Die Kehrseite: «Viele dieser Wohnungen stehen somit nicht mehr als Wohnraum für ansässige Personen zur Verfügung», so der Gemeinderat. Heisst konkret: Einheimische wie die Familie Schlemmer-Catino und Angestellte, vor allem aus dem Dienstleistungssektor, finden keine bezahlbare Bleibe mehr. In Lauterbrunnen fragen sich nicht wenige: Verkauft die Gemeinde ihre Seele?
Ein Dilemma, das auch den Gemeinderat umtreibt. Im September versendete er ein Schreiben an die Einwohnenden. Darin bat er alle, die über Wohnraum verfügen, diesen zur Miete für ansässige Familien oder Einzelpersonen zur Verfügung zu stellen. An einer Gemeindeversammlung wurden Ideen gewälzt, um die Probleme zu bekämpfen: mit höheren Parkplatzpreisen etwa. Oder mit Tagesgebühren, wie Venedig sie kennt.
«Es braucht konkrete Massnahmen»
Ebenfalls mit Besorgnis beobachtet die Berner SP-Stadträtin Lena Allenspach (31) die Wohnungsmarktsituation in Lauterbrunnen. Sie ist in der Gemeinde aufgewachsen und sorgt sich um die Region, in der ihre Familie und Bekannte noch immer leben. Die Politikerin setzt sich auch in ihrer Wahlheimat Bern für mehr bezahlbaren Wohnraum ein. Sie ist darum überzeugt: «Auf Eigenverantwortung zu setzen, reicht nicht. Es braucht konkrete Massnahmen.»
In einem Brief an den Lauterbrunner Gemeinderat schreibt Allenspach: «Ich bitte Sie, den Wohnraum in der Gemeinde Lauterbrunnen zu schützen.» Das bedeute etwa, Erstwohnungen mit einer entsprechenden Anpassung der Zonenplanung oder der Bauordnung zu erhalten. Denn heute können altrechtliche Erstwohnungen als Zweitwohnungen zu hohen Preisen verkauft und diese dem Wohnungsmarkt für Einheimische so dauerhaft entzogen werden.
«Dadurch werden immer mehr Wohnungen zweckentfremdet und die Mietpreise in die Höhe getrieben. Das Lauterbrunnental ist das Zuhause vieler Menschen, sie sollen weiterhin bezahlbare Wohnungen finden können. Die Gemeinde muss deshalb jetzt handeln und bestehenden Wohnraum schützen», begründet die Politikerin ihre Offensive.
«Kaufen liegt nicht drin»
Auch die Regulierung von Airbnb oder anderen Buchungsplattformen führt Allenspach ins Feld. Die Städte Luzern und Bern (für den Altstadt-Perimeter) etwa haben an der Urne eine solche bereits angenommen.
Familie Schlemmer-Catino wäre bereit, beim Mietpreis Kompromisse einzugehen. «Uns ist bewusst, dass wir für eine allfällig neue Wohnung mehr Miete bezahlen müssten. Notfalls würden wir auch eine kleinere Wohnung nehmen», sagt Cristina Schlemmer-Catino. Eine Immobilie zu kaufen, liege bei den hohen Preisen nicht drin.
Trotz Stress und Rückschlägen bei der Wohnungssuche: Die Familie Schlemmer-Catino bleibt verhalten optimistisch, dass es am Ende doch noch ein Happy End gibt. «Am 25. Oktober haben wir einen Termin bei der Schlichtungsstelle», erzählt die Mutter, «dann werden wir sehen, wie es für uns weitergeht.»