Die Enttäuschung steht Marc Senn* (42) nach dem Urteilsspruch ins Gesicht geschrieben. Er muss im Knast bleiben! Auf die Frage des Gerichts, ob er den Entscheid verstehe, antwortet Senn: «Rechtlich gesehen: Ja. Aber auf menschlicher Ebene nicht.»
Nach der Verhandlung zeigt sich Senns Verteidiger Julian Burkhalter im Gespräch mit Blick enorm frustriert. Trotz «kleiner Verwahrung» sei es noch immer ein Freiheitsentzug auf unbestimmte Zeit. Dass Senn in den kommenden Jahren entlassen wird, sei unwahrscheinlich. «So wie es die letzten 24 Jahre gelaufen ist, wird es das auch noch die nächsten 24 Jahre», ist Burkhalter überzeugt und stellt die Frage: «Wann soll er denn diese zweite Chance bekommen? Mit 50? Im Rollstuhl? Das ist keine zweite Chance.»
Angriff im Drogenrausch
Senn stand am Donnerstag vor Gericht für eine Tat, die er vor fast 25 Jahren in Köniz BE begangen hat. Der damals 18-Jährige griff im Drogen- und Alkoholrausch seine Mutter und deren Bekannten mit einem Fleischmesser und einer Fleischgabel an. Beide Opfer wurden glücklicherweise nur leicht verletzt.
Wegen versuchter schwerer Körperverletzung sowie mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilte ihn ein Berner Gericht zu 24 Monaten Gefängnis. Statt in den Strafvollzug ging es für Senn in eine stationäre Rauschgift-Therapie. Doch dann erhielt er die verhängnisvolle Diagnose «emotional-instabile Persönlichkeitsstörung». Senn wurde verwahrt. Seither versucht er freizukommen – vergeblich!
Die ordentliche Verwahrung gilt auf unbestimmte Zeit, trifft Täter, die schwere Gewalt- oder Sexualdelikte begangen haben, als gefährlich und untherapierbar gelten. Im Jahr 2021 befanden sich in der Schweiz 145 Menschen in einer Verwahrung. Darunter ist laut Bundesamt für Statistik eine Frau.
Eine Entlassung wird regelmässig geprüft, ist aber selten. In den letzten zwanzig Jahren waren es meist zwischen drei und sechs Personen pro Jahr.
Die stationäre Massnahme nach StGB Art. 59Wird ein Täter als psychisch krank und gefährlich eingestuft, kann das Gericht eine stationäre therapeutische Massnahme, besser bekannt als «kleine Verwahrung» anordnen. Die Massnahme dauert höchstens fünf Jahre, kann jedoch beliebig verlängert werden. Heute sind über 800 Personen in der «kleinen Verwahrung», 2008 waren es erst knapp 300.
Sowohl die Verwahrung als auch die stationäre Massnahme dienen ausschliesslich dem Schutz der Öffentlichkeit. Sie folgen nach der Freiheitsstrafe.
Die ordentliche Verwahrung gilt auf unbestimmte Zeit, trifft Täter, die schwere Gewalt- oder Sexualdelikte begangen haben, als gefährlich und untherapierbar gelten. Im Jahr 2021 befanden sich in der Schweiz 145 Menschen in einer Verwahrung. Darunter ist laut Bundesamt für Statistik eine Frau.
Eine Entlassung wird regelmässig geprüft, ist aber selten. In den letzten zwanzig Jahren waren es meist zwischen drei und sechs Personen pro Jahr.
Die stationäre Massnahme nach StGB Art. 59Wird ein Täter als psychisch krank und gefährlich eingestuft, kann das Gericht eine stationäre therapeutische Massnahme, besser bekannt als «kleine Verwahrung» anordnen. Die Massnahme dauert höchstens fünf Jahre, kann jedoch beliebig verlängert werden. Heute sind über 800 Personen in der «kleinen Verwahrung», 2008 waren es erst knapp 300.
Sowohl die Verwahrung als auch die stationäre Massnahme dienen ausschliesslich dem Schutz der Öffentlichkeit. Sie folgen nach der Freiheitsstrafe.
Wie gefährlich ist Marc Senn?
Auch vor dem Obergericht Bern am Donnerstag wurde über ein Gesuch auf bedingte Entlassung diskutiert, also den Gang in die Freiheit unter Bewährungsauflagen. Oder anders gesagt: Ist Marc Senn für ein Leben ausserhalb des Gefängnisses noch immer zu gefährlich oder nicht?
Der Vertreter der Bewährungs- und Vollzugsdienste (BVD) war der Meinung: Zwar sei die Gefahr in den vergangenen 24 Jahren gesunken, dass Senn erneut gewalttätig wird. «Aber sie ist immer noch zu hoch.» Als Grund dafür nannte er unter anderem Senns anhaltenden Drogen-Konsum.
Senn will Cannabis nicht aufgeben
Senn gab offen zu, dass er regelmässig Cannabis konsumiert und dies auch in Zukunft tun will. «Ich sitze seit 24 Jahren im Gefängnis. Das hat meiner Psyche geschadet.» Dafür wolle er künftig legales Cannabis nutzen, statt etwa Antidepressiva. Auch Heroin habe er konsumiert und während des Methadon-Programms einige Rückfälle erlitten, so Senn. Seit einem Jahr sei er abstinent.
Gemäss dem BVD-Vertreter und der Staatsanwältin stimmt das nicht. Letztere machte vor Gericht zudem geltend, dass Senn sich zwar zur Therapie bereit zeige, aber nur zu seinen Bedingungen. «Wenn es ihm nicht passt, bricht er einfach ab. So kann eine Therapie nicht funktionieren.»
Hat Senn eine Persönlichkeitsstörung oder nicht?
Auch der am Donnerstag anwesende psychiatrische Gutachter war überzeugt, dass Senn noch nicht entlassen werden sollte. Dagegen hielt Senns Verteidiger Julian Burkhalter das Gutachten eines anderen Psychiaters. Dieser bezweifelte, dass Senn noch immer an einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung leide. Die Anzeichen davon, die Senn noch habe, seien stattdessen der über 20 Jahre andauernden Isolierung geschuldet.
Senn räumte ein, in der Therapie nicht immer «Mr. Perfect» gewesen zu sein. Doch er wolle sich bessern und deswegen zu einem anderen Therapeuten. Etwa zu dem in der JVA Lenzburg. «Dort habe ich grosse Fortschritte im emotionalen Umgang mit Aggressionen, Sucht und im zwischenmenschlichen Zusammenleben gemacht.»
Doch das reichte den Richtern nicht. Sie lehnten Senns Gesuch ab und bestätigten das vorherige Urteil für eine stationäre Massnahme auf vier Jahre. Es wurden mehrere Gründe genannt, doch einen machte der Gerichtspräsident ganz deutlich: «Sie müssen frei von Drogen werden. Auch von Cannabis.»
* Name geändert
Der Ticker zum Nachlesen:
Auch ein erneutes Freiheits-Gesuch von Marc Senn brachte nichts
Am Donnerstag musste das Berner Obergericht über ein erneutes Gesuch von Marc Senn auf eine bedingte Entlassung entscheiden. Senn machte vor Gericht seine grossen Fortschritte in der Therapie und Sucht-Kontrolle geltend. Doch die Staatsanwältin, ein Vertreter der Bewährungs- und Vollzugsdienste und ein Gutachter widersprachen, dass dies für eine bedingte Entlassung genüge. Trotz eines zweiten Gutachtens, das gegen eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung bei Senn spricht, haben die Richter die Beschwerde abgelehnt. Sie bestätigen das vorangehende Urteil für eine vierjährige stationäre Massnahme.
Verhandlung beendet
Der Gerichtspräsident beendet die Verhandlung rund 40 Minuten nach der Urteilsverkündung.
«Jetzt muss ich alles nochmal machen»
Er sei müde, fährt Senn fort. Zwischen den einzelnen Gutachten lägen Jahre und er habe dazwischen grosse Fortschritte gemacht, die nicht honoriert worden seien. «Jetzt muss ich alles nochmal machen. Weil verpasst wurde, die Gutachten zur richtigen Zeit zu machen.»
Senn kann Entscheid verstehen, aber auch nicht
Der Gerichtspräsident fragt Senn, ob er diesen Entscheid nachvollziehen kann. Dazu sagt Senn sagt: «Rechtlich gesehen: Ja. Aber auf menschlicher Ebene nicht.»
Obergericht bestätigt vierjährige stationäre Massnahme
Dennoch ist für den Gerichtspräsidenten klar, dass Senn Fortschritte gemacht habe. «Sonst würden wir gar nicht über eine stationäre Massnahme diskutieren. Und die ist bereits eine deutliche Verbesserung gegenüber der Verwahrung.»
Auch das Obergericht bleibt bei einer vierjährigen stationären Verwahrung. «Wir haben uns überlegt, sie auf drei Jahre zu senken.» Aber weil Senn in letzter Zeit keine weiteren Fortschritte gemacht hat, habe man sich dagegen entschieden.
Der Gerichtspräsident fügt aber an: Wenn Senn in der nächsten Zeit grosse weitere Fortschritte macht, sei es gut möglich, dass es schon vorher zu weiteren Lockerungen kommt. «Aber das kommt auf Sie an.»
Nur drogenfrei in die Freiheit
Für seine Freiheit muss sich etwas bei Senn verändern, so der Richter. Aber er fügt an: «Bewegen muss sich auch die BVD. Sie hat das in der Vergangenheit auch nicht immer wunschgemäss gemacht.» Doch der Richter stellt eine klare Bedingung für Senns Freiheit: «Sie müssen frei von Drogen werden. Auch von Cannabis.» Deswegen müsse Senn künftig auch die Urinproben zulassen, so der Richter. «Mit der Verweigerung schneiden Sie sich ins eigene Fleisch.»
Senns Verhalten lasse Ausnahme nicht zu
Zwar gäbe es Präzenzfälle, so der Gerichtspräsident. Aber das bisherige Verhalten Senns würde eine Entlassung nicht zulassen. Er geht auf die Forderung des Verteidigers nach einer Chance für Senn ein: «Chance ist ein weites Feld und je nach Blickfeld wird sie anders beurteilt.»
«Bedingte Entlassung rechtlich nicht möglich»
Der Gerichtspräsident fährt fort: «Nach so langer Zeit wäre es Ihnen menschlich zu gönnen, in die Freiheit zu kommen.» Doch rechtlich sei das nicht möglich. Das Gesetz schreibe vor, dass man aus einer Verwahrung nicht in eine ambulante Massnahme oder bedingt entlassen werden könne.
Senns schwere Kindheit wurde gewichtet
Der Gerichtspräsident begründet die Entscheidung: Es sei kein einfaches Verfahren gewesen. Gerade wegen Senns Kindheit. «Man kann sagen, dass Sie seit dem ersten Tag schlechtere Karten hatten, als vergleichsweise andere Menschen.» Es habe nach Senns Aussage keine glücklichen Tage in seiner Kindheit gegeben. Der Richter zitiert aus einem Gutachten früherer Aussagen Senns: «Schön waren die Tage, an denen er nicht von seinem Vater geschlagen wurde. Dann kamen aber seine Mutter oder seine Schwester dran. An anderen Tagen sah er seine Mutter, eine Prostituierte, mit ihren Freiern.»
Marc Senn bleibt im Gefängnis
Das Gericht hat entschieden: Senns Gesuch wird abgewiesen, soweit das Gericht darauf eintritt. Die Kosten werden ebenfalls dem Beschwerdeführer auferlegt.