In einem kahlen, kühlen Raum mit niedriger Decke, einem früheren Lagerraum der Armasuisse, wird Ende Juni über Marc Senns (Name geändert) Zukunft verhandelt.
Der Berner ist zu zwei Jahren Haft verurteilt worden – und sitzt nun seit 23 Jahren. Bisher wurden alle seine Gesuche auf Haftlockerung oder -entlassung abgelehnt: Er sei zu gefährlich, hiess es jeweils.
Tageslicht fällt nur durch den Luftschacht hinter dem Richterpult. Die fünf Berner Richterinnen prüfen, ob Senns Verwahrung in eine stationäre Massnahme, eine sogenannte kleine Verwahrung umgewandelt wird. Das hiesse: weitere Jahre Therapie, gutes Benehmen und dann auf ein besseres Gutachten hoffen.
Zu wenig, finden Senn und Burkhalter – sie fordern eine sofortige bedingte Entlassung. Burkhalter sagt: «Aus zwei Jahren können nicht einfach 23 werden. Zum Tatzeitpunkt war Marc fast noch ein Kind. Mittlerweile hat er mehr Zeit in seinem Leben in Haft als in Freiheit verbracht. Ihn weiter im Vollzug zu behalten, ist nicht mehr zumutbar. Es ist willkürlich, erniedrigend, unmenschlich.»
Manchmal ist nicht klar, wer wütender ist: Burkhalter oder sein Mandant. Mehrmals weist die Gerichtspräsidentin Burkhalter während der Verhandlung zurecht. Sein Stil ist unorthodox, sein Pathos selbst für den Gerichtssaal unüblich. Von der Menschenrechtsorganisation Humanrights erhält er keine Mandate mehr, weil er ihr – so sagt er es – zu konfrontativ sei.
«Ihr müsstet jetzt sagen: Stopp, es reicht!»
Ihm geht es ums Prinzip. Und er weiss, dass er einen wunden Punkt trifft: «Wir haben einen 20-Jährigen weggesperrt, entsorgt. Wir sind am Übersteuern. Wir haben dadurch keine Delikte verhindert. Ihr müsstet jetzt sagen: Stopp, es reicht! Aber niemand hat den Mut hinzustehen.»
Senn muss während des Plädoyers den Gerichtssaal verlassen, es wird ihm zu viel.
In der Pause kommt es im Gang zu einer Diskussion zwischen Burkhalter und dem Vertreter der Berner Vollzugsbehörde. Der sagt, er sei erschrocken, wie alt Senn geworden sei. Burkhalter nickt: «Ich habe den Glauben verloren, dass bei ihm auf Freiheit hingearbeitet wird.» Der Vertreter hält ihn an, Druck zu machen, statt den Gerichtssaal in eine weltanschauliche Auseinandersetzung zu verstricken. Er solle nicht pokern, sagt er, bevor der die Sätze anfügt, welche die Haltung der Schweizer Vollzugsbehörden am deutlichsten zum Ausdruck bringen: «Ohne Fortschritte in der Therapie wird nichts gehen. Das Risiko kann man noch senken.»
Für die Vollzugsbehörde ist Senn also nach 23 Jahren in Haft immer noch zu gefährlich.
«Ich bin nicht mehr der Drögeler, der kleine asoziale Wixer»
In diesem Moment mischt sich Senn, flankiert von zwei Kantonspolizisten, in die Diskussion ein. «Ich bin besser geworden», sagt er. «Ich bin nicht mehr der Drögeler, der kleine asoziale Wixer.» Man solle ihm eine Chance geben. Er fühle sich ausgeliefert, schikaniert.
Der Vertreter beharrt auf seinem Standpunkt, bis die Gerichtspräsidentin alle wieder in den Saal weist.
Das Gericht weist die bedingte Entlassung ab. Es glaubt, diese würde ihn überfordern: «Im Haifischbecken draussen kann er nicht überleben. Dann haben wir ihn bald wieder zurück im Vollzug.» Doch seine Verwahrung wird in eine stationäre Massnahme umgewandelt – für vier weitere Jahre soll er in Therapie. Es ist ein Pyrrhussieg für Burkhalter und Senn: ein Minischritt in Richtung Freiheit, sechs Jahre zu spät. Ein Gutachten hatte die Umwandlung bereits 2017 empfohlen.
Die Angst beeinflusst die Urteile
Das Grundproblem bei Massnahmen, sagt Ex-Richterin Marianne Heer, sei ein Systemfehler. Das Gericht kann zwar eine Massnahme wie die Verwahrung anordnen, verlängern oder umwandeln, aber ob ein Häftling in den offenen Vollzug kommt oder entlassen wird, liegt in der Zuständigkeit der Vollzugsbehörden. Diese sind dem kantonalen Justizdirektor unterstellt. Letztlich geht es also um seinen Kopf. «Wenn ein Regierungsrat über Entlassungen entscheidet, fehlt die Gewaltenteilung.»
Heer sagt, es komme immer wieder vor, dass Mitarbeitende der Vollzugsbehörden einen Insassen entlassen wollten – und der Justizdirektor den Entscheid dann ablehne. Aus Angst vor einem Shitstorm oder aus Sorge um die Wiederwahl. Bestes Beispiel dafür, dass diese Furcht nicht verfehlt ist, ist alt Bundesrat Moritz Leuenberger, der nach dem Mord am Zollikerberg vor 30 Jahren fast den Einzug in den Bundesrat verpasste.
Heer sagt: «Alle in der Strafjustiz stehen sehr unter Druck.» Die Angst beeinflusse die Urteile. «Wenn Sie einen Täter freilassen oder eine Verwahrung aufheben, riskieren Sie Ihre Karriere.» Die Folge: Alle drücken sich vor der Verantwortung. Das Gericht, das lediglich den Gutachten folgt, die Psychiaterinnen, die lediglich eine Empfehlung abgeben. «Wir haben uns in eine Sackgasse manövriert», sagt Heer.
Sie fordert einen Systemwechsel: Ein unabhängiges Strafgericht müsse über Entlassungen entscheiden, nicht die Justizbehörde. Doch bisher findet sie damit in der Politik kaum Gehör.
Psychiater: Man muss mitmachen
Der Psychiater hatte im Gerichtssaal skizziert, wie Senns Weg in die Freiheit aussehen könnte: zuerst Arbeits- oder Wohnexternat, begleitet von intensiver Therapie. Falls erfolgreich, eine bedingte Entlassung. Er müsste auch dann in Therapie, regelmässig Urinproben und Haaranalysen abgeben. Leistet er sich irgendeinen Fehler – trinkt er Alkohol, gerät er in einen Konflikt –, muss er wieder ins Gefängnis. Selbst das wird schwierig: Gemäss einer Studie wird nur jede zehnte stationäre Massnahme aufgehoben.
Die ordentliche Verwahrung gilt auf unbestimmte Zeit, trifft Täter, die schwere Gewalt- oder Sexualdelikte begangen haben, als gefährlich und untherapierbar gelten. Im Jahr 2021 befanden sich in der Schweiz 145 Menschen in einer Verwahrung. Darunter ist laut Bundesamt für Statistik eine Frau.
Eine Entlassung wird regelmässig geprüft, ist aber selten. In den letzten zwanzig Jahren waren es meist zwischen drei und sechs Personen pro Jahr.
Die stationäre Massnahme nach StGB Art. 59Wird ein Täter als psychisch krank und gefährlich eingestuft, kann das Gericht eine stationäre therapeutische Massnahme, besser bekannt als «kleine Verwahrung» anordnen. Die Massnahme dauert höchstens fünf Jahre, kann jedoch beliebig verlängert werden. Heute sind über 800 Personen in der «kleinen Verwahrung», 2008 waren es erst knapp 300.
Sowohl die Verwahrung als auch die stationäre Massnahme dienen ausschliesslich dem Schutz der Öffentlichkeit. Sie folgen nach der Freiheitsstrafe.
Die ordentliche Verwahrung gilt auf unbestimmte Zeit, trifft Täter, die schwere Gewalt- oder Sexualdelikte begangen haben, als gefährlich und untherapierbar gelten. Im Jahr 2021 befanden sich in der Schweiz 145 Menschen in einer Verwahrung. Darunter ist laut Bundesamt für Statistik eine Frau.
Eine Entlassung wird regelmässig geprüft, ist aber selten. In den letzten zwanzig Jahren waren es meist zwischen drei und sechs Personen pro Jahr.
Die stationäre Massnahme nach StGB Art. 59Wird ein Täter als psychisch krank und gefährlich eingestuft, kann das Gericht eine stationäre therapeutische Massnahme, besser bekannt als «kleine Verwahrung» anordnen. Die Massnahme dauert höchstens fünf Jahre, kann jedoch beliebig verlängert werden. Heute sind über 800 Personen in der «kleinen Verwahrung», 2008 waren es erst knapp 300.
Sowohl die Verwahrung als auch die stationäre Massnahme dienen ausschliesslich dem Schutz der Öffentlichkeit. Sie folgen nach der Freiheitsstrafe.
So schwarz wie Burkhalter sieht Forensiker Elmar Habermeyer Senns Zukunft nicht: Es gebe viele, die aus einer Massnahme entlassen würden. «Man kann viele Straftäter behandeln.» Betroffene müssen dazu aber auch interessiert sein, in der Therapie an sich zu arbeiten. Müssen mitmachen. «Wenn man sich stur stellt, wird es schwierig.»
Sich stur stellen oder eine eigene Meinung haben, kooperativ sein oder unterwürfig – es ist ein schmaler Grat.
Beim ersten Besuch in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies entlädt sich Senns ganze Wut und Verzweiflung über das, was ihm widerfahren ist: Die Therapien im Gefängnis nennt er ein sich selbst erhaltendes System, jedes Wort werde auf die Goldwaage gelegt, alle hätten Schiss, auch nur den kleinsten Fehler zu machen. «Wir sind für sie keine Menschen, wir sind Nummern», sagt er.
Die Behörden hätten bei ihm immer wieder Fehler gemacht: «Es sind all diese Missverständnisse, kleineren Fehler, bei denen sie keine Verantwortung übernehmen wollen. Es reicht, um einen Berg Scheisse zu produzieren», sagt er. Er habe seinen Teil dazu beigetragen, klar. Er sei «nicht ganz normal», antiquiert, politisch unkorrekt, passe nicht ins System. «Aber im Gegensatz zur Behörde bin ich für meine Fehler geradegestanden.»
Der Staatsanwalt hatte vor Gericht betont, es sei nicht förderlich, «diese Opferhaltung zu unterstützen». Man müsse jetzt nach vorne schauen. Darf und kann man das von ihm erwarten? Senn sagt nur: «Ich will hier nicht verrecken.»
Hoffnung: «In vier Jahren bin ich draussen»
Drei Monate später, es ist Ende September. Marc Senn wirkt zufriedener als letztes Mal, gar ein bisschen hoffnungsvoll. Vor zwei Wochen hat er das Methadon abgesetzt, seinen letzten Joint geraucht. Sobald seine Urin- und Haarproben sauber sind – er denkt, Ende November –, kann er die Therapie beginnen. Der Weg sei nun nicht mehr endlos, sagt er. «Ich sehe das Ziel noch nicht, aber den Horizont.»
Beim ersten Mal auf der spezialisierten Abteilung für Häftlinge im Massnahmenvollzug gab es Probleme, Senn fühlte sich nicht ernst genommen, rastete aus, das heisst: Er fluchte. Er spricht von einem «Kollisionsfall». Weil er jetzt eine Voreingenommenheit der Therapeuten befürchtet, hat er beantragt, auf eine andere Etage zu wechseln. Seinen Wunsch hat man berücksichtigt. Er sagt: «Jetzt wird es ernst genommen.»
Nach zwei oder drei Jahren soll ein halb offener Vollzug möglich sein, danach eine Entlassung auf Bewährung. «In vier Jahren bin ich draussen. Mit Glück etwas früher.»
Während Senn im Gefängnis eine neue Chance in Angriff nimmt, kämpft sein Verteidiger weiter. Burkhalter hat erneut ein Gesuch auf bedingte Entlassung gestellt. Im Januar 2024 ist die nächste Gerichtsverhandlung.
Sein Traum: Wohnwagen, Standplatz und zwei Hunde
Senns Traum ist ein eigener Wohnwagen mit Dauerstandplatz. «Es muss nicht der schönste Ort sein, aber angenehm.» Dann will er schauen, dass er über die Runden kommt. Vielleicht eine Lehre beginnen, die Arbeit als Florist im Gefängnis gefällt ihm. Zwei Hunde will er sich zutun: einen Appenzeller-Amstaff- und einen Appenzeller-Pitbull-Mischling. Beides sind Wach- und Schutzhunde. Weibchen müssten es sein, wegen des Charakters.
Was hat ihn eigentlich all diese Jahre angetrieben? Senn sagt, er sei stolz: «Ich habe es geschafft, mich selbst nicht zu verleugnen.» Es ist wohl Senns Art, etwas Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen, ein Bollwerk gegen das ständige Ausgeliefertsein im Gefängnis zu bauen. Es hat geholfen.
Beim Abschied sagt er noch: «Merci, Madame. Bis zum nächsten Mal.»