Die Gerichtspräsidentin lässt am Montagnachmittag mit der Verkündigung des Urteils Zeit. Sie erklärt zunächst 30 Minuten lang die Entscheidung des Regionalgerichts Oberland, bevor sie das Urteil gegen die Ehefrau (59) von Martin Stäger (†69) verkündet: Sie ist schuldunfähig und kommt deswegen in die «kleine Verwahrung» – für mehrere Jahre.
Dass die Beschuldigte die Tat begangen hat, das ist laut der Richterin unbestritten. «Sie hat die Tat in jeder Einvernahme zugegeben und geschildert, wie sie ihren Mann erstochen hat.» Sie selbst sei es gewesen, die nach der Tat den Notruf gewählt habe. Auch bezüglich der Schuldunfähgikeit gebe es keine Zweifel, fährt die Richterin fort. «Das Gutachten ist nachvollziehbar, vollständig und klar im Resultat.» Wie lange die Massnahme dauern soll, ist dagegen unklar: «Es ist von mehreren Jahren auszugehen.» Die Kosten des Verfahrens muss der Staat übernehmen.
Neben der «Kleinen Verwahrung» beantragte die Staatsanwaltschaft auch einen siebenjährigen Landesverweis für die deutsche Staatsbürgerin. Die Verteidigung legte dagegen Einspruch ein. Schlussendlich folgte das Gericht der Verteidigung. Die Gerichtspräsidentin erklärt wieso: «Der fakultative Landesausweis dient dem öffentlichen Interesse, die Wiederholung einer so schwerwiegenden Tat zu verhindern. Doch genau dazu ist die Massnahme gedacht. Und die Beschuldigte wird nur daraus entlassen, wenn das von ihr ausgehende Gefahrenpotenzial deutlich gesenkt wurde. In dem Fall ist ein Landesverweis nicht mehr verhältnismässig.»
Die Bluttat im August 2022 schockte die Schweiz: Martin Stäger wird erstochen in seiner Wohnung in Lauterbrunnen BE aufgefunden. Der SVP-Politiker war seit Herbst 2014 Gemeindepräsident gewesen, präsidierte 18 Jahre lang den örtlichen Skiklub und war 24 Jahre lang militärischer Sektionschef der Gemeinde Lauterbrunnen.
Schon bald geriet Stägers Ehefrau unter Tatverdacht. Eine knappe Woche nach der Tat gesteht die deutsche Staatsbürgerin, ihren Mann im Streit tödlich verletzt zu haben. Dafür musste sie sich wegen vorsätzlicher Tötung vor dem Regionalgericht Oberland verantworten. Um 15 Uhr fiel das Urteil: Die Beschuldigte ist schuldunfähig, die Richterin folgt dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf eine «kleine Verwahrung» und setzt diese auf mehrere Jahre an.
58 Stiche in Brust, Bauch und Kopf
Die Staatsanwaltschaft beschreibt den Tatablauf wie folgt: Einige Tage vor der Tat kaufte sich die Beschuldigte eine Flasche Preiselbeersaft, doch bereits beim ersten Schluck habe sie Ammoniak geschmeckt. Für sie war dies der klare Beweis, dass jemand sie vergiften wollte.
In den folgenden Tagen steigerte sich Stägers Ehefrau immer stärker in diesen Wahn. Ihr Mann versuchte, sie zu beschwichtigen. Doch dann kam es in der gemeinsamen Wohnung zum Streit. Die Ehefrau griff nach einem Küchenmesser und stach 58-mal auf ihren Mann ein, traf ihn am Brustkorb, Bauch und Kopf. Stäger verstarb aufgrund des grossen Blutverlusts und des Kollabierens seiner Lungen.
Das sonst so idyllische Bergdorf Lauterbrunnen war erschüttert. Ein Anwohner sagte zu Blick: «Er war so ein lieber Mensch. Ich kenne niemanden hier im Dorf, der ihn nicht mochte.» Doch völlig aus dem Nichts kam die Tat offenbar nicht. Eine Jugendfreundin von Stäger erzählte: «Die beiden haben sich oft gezofft. Verbal, aber auch physisch.» Sogar eine Scheidung habe sie erwartet. «Es war eine toxische Beziehung.»
Schuldunfähig wegen Wahnvorstellung
Laut einem psychiatrischen Gutachten leidet die Beschuldigte an einem stark ausgeprägten Verfolgungs- und Vergiftungswahn, weswegen sie schon mehrfach in psychiatrischen Kliniken war – teils monatelang. Demnach soll die schwere psychische Störung zur Tat geführt haben: Die Ehefrau «war zum Tatzeitpunkt der wahnhaften Überzeugung, von ihrem Ehemann vergiftet zu werden». Aus diesem Grund stuft das Gutachten die Täterin als schuldunfähig ein.
Aufgrund des «unverändert fortbestehenden» Wahns der Ehefrau könnten weitere Gewalttaten nicht ausgeschlossen werden, heisst es weiter. So könnte jede Person aus ihrem näheren oder weiteren Umfeld in ihren Wahn einbezogen werden. Und auch für Fachpersonen sei es «schlecht vorhersehbar», wann dieses Verhalten «urplötzlich in feindselige und aggressive Reaktionen» umschlägt.
Seit dem Ende der Untersuchungshaft befindet sich die Frau im vorzeitigen Massnahmenvollzug. Sie sei davon überzeugt, dass das dortige Sicherheitspersonal für die «Stasi» arbeite, und wirft Ärzten und Mitpatienten vor, diese hätten versucht, sie zu vergiften. Deswegen empfahl auch das Gutachten eine mehrjährige stationäre Massnahme.