Es ist der 4. Januar 2020. Draussen herrschen eisige Temperaturen, als der Anwohner Paul Tschabold (58) zufällig am frühen Morgen auf dem Werkhof in Därstetten BE seinen Müll entsorgen will. Nur weil sich der Hauswart an der vermeintlich fälschlicherweise im Kaffeekapsel-Karton entsorgten Decke stört, zieht er daran – und rettet so knapp das Leben eines ausgesetzten Mädchens.
Mutter Marion W.* (44) konnte später ermittelt werden und muss sich nun ab Dienstag vor dem Regionalgericht Oberland in Thun BE wegen versuchter Kindstötung und diverser Drogendelikte verantworten. Gemäss Anklageschrift hatte die Deutsche am Vorabend klammheimlich geboren, nachdem sie schon die Schwangerschaft – entstanden offenbar durch eine Affäre – geheim gehalten hatte.
«Herzlos» gehandelt
Zwischen 18 und 19 Uhr habe sie beim Auto gestanden und eine Zigarette geraucht. Ihre Hunde liess sie beim abgelegenen Werkhof frei rumlaufen. Plötzlich habe sie starke Bauchschmerzen sowie einen Druck im Unterleib verspürt und spontan entbunden. Anschliessend soll sie das Kind aus ihrer Hose geholt, die Nabelschnur mit einer Schere aus der Autoapotheke durchtrennt und es in zwei Decken aus dem Fahrzeug eingewickelt haben. So habe sie es dann im ungeheizten Entsorgungsraum abgelegt. Noch am selben Abend sei sie zu McDonald's und in einen Tankstellen-Shop zum Einkaufen gefahren, später habe sie noch Drogen in Münsingen BE abgeholt.
Stefan Hofmann (30) aus Bern ist selbst ein Findelkind. Die Geschichte aus Därstetten erschüttert ihn zutiefst, erzählt er im Gespräch mit Blick: «Es hat mich wütend gemacht, als ich das gelesen habe, und ich wurde emotional.» Die Mutter habe «herzlos» gehandelt, meint er: «Nur schon der Ort der Aussetzung war von ihr schlecht gewählt, und man fragt sich, wie sehr sie wollte, dass es ihrem Kind gut geht. Aber vermutlich haben die Drogen sie einfach nicht klar denken lassen.»
In Buchhandlung ausgesetzt
Der junge Mann wurde am 31. Oktober 1991 mit etwa elf Tagen in Bern zurückgelassen, die Suche nach seinen biologischen Eltern sei etwa zwei Jahre später eingestellt worden. Im Gegensatz zum Fall im Berner Oberland sei er sehr «liebevoll» ausgesetzt worden: «Ich wurde – wahrscheinlich von meiner Mutter – im Treppenhaus einer Buchhandlung zurückgelassen. Ich lag in einem Körbchen, ein Teddybär sowie ein Kuhmilch-Schoppen und eine Tasche voller Kleider für mich standen daneben.»
Die Mitarbeiter des Ladens seien irgendwann auf das Baby aufmerksam geworden: Er habe geweint. «Und es sah nicht danach aus, als würde ich bald wieder abgeholt, darum haben sie die Polizei gerufen», sagt Hofmann. Nach einem zweiwöchigen Aufenthalt im Spital kam der kleine Bub dann zu seinen Adoptiveltern – dort habe er eine glückliche Kindheit verbracht, mit zwölf «Geschwistern» unterschiedlichster Herkunft. Die Geschichte seiner Herkunft hätten ihm seine Adoptiveltern von Anfang an offengelegt.
Die Suche nach der Identität
Der junge Mann kann sich daher sehr gut in die Situation des kleinen Mädchens aus Därstetten hineinversetzen, das unterdessen rund zweieinhalb Jahre alt ist und ebenfalls in einer Pflegefamilie lebt. «So ein schwieriger Start ins Leben prägt einen», meint er im Gespräch mit Blick. Als Baby habe er oft stundenlang geschrien. Das könnte auch am beidseitigen Schlüsselbeinbruch gelegen haben, den man erst später entdeckte und der wohl von der Geburt her stammte. Auch als er älter wurde, habe er es nicht immer leicht gehabt: «Als ich eingeschult wurde, hatte ich mit grossen Verlustängsten zu kämpfen.» Zu Beginn habe seine Mutter darum jeweils stundenlang mit im Klassenzimmer sitzen müssen.
Den Drogenkonsum von Marion W. sieht er als mögliche Gefahr für die Zukunft des Mädchens. «Als Teenager habe ich selbst auf der Suche nach meiner Identität begonnen, Drogen zu nehmen. Ich glaube, das hat irgendwie in mir geschlummert», meint Hofmann nachdenklich. Unterdessen ist er selbständiger Unternehmer und hat mit seiner unklaren Herkunft glücklicherweise einen gesunden Umgang gefunden: «Heute könnte ich mir keine besseren Eltern wünschen, als meine Pflegeeltern es sind.»
«Haftstrafe würde vermutlich nicht schaden»
Nach seiner leiblichen Mutter suche er nicht aktiv, sagt er: «Aber ich würde mich sehr freuen, sie kennenzulernen. Ich hege keinen Groll ihr gegenüber, würde ihre Gründe aber schon gerne erfahren.» Er hoffe, dass auch das Findelkind aus Därstetten irgendwann mit seiner Vergangenheit Frieden schliessen könne.
Über eine angemessene Strafe für die mittlerweile ausgewanderte Kindsmutter will er nicht urteilen, doch er findet: «Vermutlich würde es ihr nicht schaden, eine Weile im Gefängnis zu sitzen – nur schon, um wirklich clean zu werden.»
* Name geändert