Expertin erklärt Kind-Verstossung
«Nicht jede Mutter hat Freude an ihrem Kind»

Warum hat Marion W. ihre Tochter auf einem Werkhof abgelegt? Expertin Karin Meierhofer vermutet, dass sie sich in einer grossen Notlage befunden haben musste. Und empfiehlt bei Zweifeln an der Schwangerschaft, sich beraten zu lassen.
Publiziert: 08.01.2020 um 12:02 Uhr
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Aktualisiert: 08.01.2020 um 18:55 Uhr
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Karin Meierhofer, Geschäftsleiterin, Pach (Pflege- und Adoptivkinder Schweiz), berät viele Frauen, die in sich in ähnlichen Situationen wie Marion W. befinden.
Foto: www.dianaulrich.com

Der Fall des Findelkinds in Därstetten BE bewegt die Schweiz. Marion W.* hat ihr neugeborenes Mädchen am Freitagabend in einer Kartonschachtel, eingewickelt in eine Wolldecke, einfach auf den Sammelbehälter für Kaffee­kapseln im Werkhof gelegt. Hätte der Finder Paul Tschabold (55) seinen Hausmüll nicht am frühen Samstag abgeliefert, das Neugeborene wäre womöglich erfroren.

«Marion W. muss sich wohl in einer sehr grossen Notlage befunden haben und überfordert gewesen sein», sagt Karin Meierhofer (46). Die Geschäftsleiterin von Pach (Pflege- und Adoptivkinder Schweiz) berät Eltern, die nicht wissen, ob sie ihre Kinder behalten können oder wollen.

Frauen mit schwieriger Kindheit

Oft kämen Frauen in die kostenlose Beratung, bei denen sich eine Vielzahl von Schwierigkeiten angehäuft haben, sagt Meierhofer. «Armut, keine soziale Verankerung oder psychische Probleme können zu solchen Extremsituationen führen.» Manchmal seien es auch Frauen, die selber keine gute Kindheit hatten oder sich zu jung oder zu alt fühlen, um Mutter zu sein.

Bei einigen sei auch während der Schwangerschaft nie ein Bezug zum Kind entstanden, es sei immer ein Fremdkörper geblieben. «Nicht jede Mutter hat Freude an ihrem Kind», sagt Meierhofer.

Babyklappe wäre Alternative gewesen

Der Fall von Marion W. ist auch für die Expertin speziell: «Dass ein Kind ausgesetzt wird, kommt glücklicherweise sehr selten vor.» 52 waren es in den vergangenen 24 Jahren laut inoffiziellen Zahlen, wobei rund die Hälfte davon in sogenannte Babyfenster gelegt wurde und sogleich durch fachlich qualifiziertes Personal betreut werden konnte.

Marion W. bevorzugte den Werkhof. «Sie wusste wohl nicht, mit wem sie reden kann, fühlte sich vollkommen isoliert und kannte vielleicht das Unterstützungsangebot zu wenig gut», mutmasst Meierhofer. Vielleicht habe es auch vom Kindsvater kaum Unterstützung gegeben.

Sie empfiehlt allen werdenden Müttern, oder Eltern, in ähnlichen Situationen wie Marion W., bei Zweifeln eine Beratungsstelle aufzusuchen. «Dort stehen neutrale Fachpersonen als Ansprechpartner bereit, die helfen, die Dinge differenziert zu betrachten, Erklärungen für die Ängste zu finden und verschiedene Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen.» (vob)

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