Diese Frage lässt selbst die höchsten Entscheidungsträger und Experten ratlos zurück: Wie konnte es passieren, dass der verurteilte Doppelmörder Raphael M.* (32) während des Haft-Ausgangs letzten Donnerstag die Seniorin Assunta L.** (†75) tötet? Genau in jenem Haus, in dem M. schon 2014 Blut vergossen hatte.
Am Montagnachmittag informieren nun die involvierten Funktionäre, stellen sich der Öffentlichkeit. Von der Pressekonferenz bleibt vor allem eine Erkenntnis zurück: Ein gigantischer Behördenapparat aus Fachkommissionen, Psychiatern, Polizei und Justiz soll zwar verhindern, dass psychisch kranke Gewalttäter rückfällig werden, doch Assunta L. ist trotzdem tot.
Und so leiten alle fünf anwesenden Funktionäre ihre Statements mit dem gleichen Satz ein: «Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen des Opfers.» Es ist das Einzige, was sie spezifisch zum Tötungsdelikt am Nasenweg sagen.
Psychiatrie statt Knast
Stattdessen erläutern sie das allgemeine Vorgehen von Behörden und Psychiatrie. «Eine stationäre therapeutische Massnahme nach Artikel 59 wird ausgesprochen, wenn ein Täter an einer psychisch schweren Störung leidet und diese mit dem Delikt zusammenhängt», erklärt etwa Sabine Uhlmann, Leiterin des kantonalen Straf- und Massnahmenvollzugs.
Raphael M. hatte eine solche Massnahme angeordnet bekommen: 2014 tötete er zwei Frauen (†42 und †76), eine davon im selben Haus wie nun Assunta L., und verletzte einen älteren Mann (88) schwer. Nach seiner Verurteilung wurde er in die geschlossene Psychiatrie der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK) eingewiesen.
«Im Vordergrund der Massnahme steht die Behandlung der psychischen Störung mit dem Ziel, das Rückfallrisiko zu senken», erklärt Uhlmann weiter. Kurz gesagt: Die Straftäter werden mit Medikamenten behandelt und lernen in der Therapie den Umgang mit ihrer Krankheit. Bei Raphael M. ist das Schizophrenie.
Ausgänge gehören zur Therapie
Zur Behandlung gehöre, dass man ausprobiere, ob ein Täter in einem «alltagsnäheren Umfeld», funktionieren könne. Sprich: Man ermöglicht zunächst begleitete, dann unbegleitete Ausgänge und analysiert, wie sich die Person verhält.
Wann und in welchem Rahmen solche Ausgänge ermöglicht werden, entscheiden die Fachkräfte in der Psychiatrie und eine Fachkommission des Massnahmevollzugs. Laut UPK und Uhlmann sollen insgesamt bis zu 14 Leute beteiligt sein. Sie stützen sich auf Fragenkataloge, Berichte, Einschätzungen.
Über ein Dutzend Fachpersonen haben also mithilfe von zig beschriebenen Seiten entschieden, dass Raphael M. vergangenen Donnerstag unbegleitet herumlaufen durfte, dabei ein weiteres Opfer fand und umbrachte. Heisst: Die Verantwortung für Assunta L.s Tod verteilt auf unzähligen Schultern in mehreren Institutionen.
Öffentlichkeitsfahndung zu spät?
Nachdem Raphael M. das Delikt begangen hatte, flüchtete er. Das Gebiet rund um den Tatort wurde zwar abgesperrt, doch mit der öffentlichen Fahndung warteten die Behörden beinahe einen ganzen Tag.
Martin Schütz, Sprecher der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt, rechtfertigt die Verzögerung gegenüber Blick: «Eine Öffentlichkeitsfahndung ist die letzte Massnahme, wenn die polizeiinternen zeitnahen Fahndungsansätze ausgeschöpft sind. Wir haben in diesem Fall ungewöhnlich schnell zu diesem Mittel gegriffen.»
An der Pressekonferenz will Blick wissen, ob man die Straftäter auf ihren Ausgängen nicht elektronisch überwache. Sabine Uhlmann dazu: «Nein, das würde nichts nützen. Wir könnten keine Straftaten verhindern, nur am Bildschirm zuschauen.»
Verantwortung «auf tragische Weise» nicht gerecht geworden
Das System, der Behördenapparat rund um psychisch kranke Täter, funktioniere, heisst es denn auch an der Pressekonferenz. Henning Hachtel, Forensik-Direktor an der UPK, zitiert die Statistik: «Die Rückfallquoten bei Gewaltstraftätern mit psychotischem Hintergrund ist nach der Behandlung deutlich tiefer als jene in der Allgemeinbevölkerung.»
Raphael M. – also die Ausnahme, die die Regel bestätigt? Der Tod von Assunta L. – ein Einzelfall, der nicht verhindert werden konnte? Die Funktionäre an der Pressekonferenz sind sich einig: Schuldzuweisungen wären verfrüht. Man müsse erst die Untersuchung des Falls abwarten.
Lukas Engelberger, Vorsteher des Gesundheitsdepartements, räumt ein: «Wenn sich der Tatverdacht gegen Raphael M. bestätigt, ist es leider so, dass wir als Kanton unserer Verantwortung auf tragische Art und Weise nicht gerecht werden konnten.»
*Name bekannt
**Name geändert